Kolumne «Tribüne»Nennen wir ihn Kurt
Publizist Michael Wiederstein über die Einsamen in der Vor-Adventszeit, die in diesem Jahr noch einsamer sind.

Kurt duscht nicht so oft wie andere Thalwiler. Das erkennt man am Glanz seiner etwas zu langen Haare. Er tut auch seinen Brillengläsern nur selten Gutes, und seine Lederjacke hat diese speckigen Stellen, die sich erst nach vierzig Jahren dauerhaften Tragens ausprägen. Kurt, so um die siebzig, schlendert einmal morgens und einmal abends durchs Quartier. Wo genau er wohnt, kann ich nicht sagen. Aber er wohnt sicher irgendwo, ganz so schlimm ists nicht.
Die alte Dame im Rollstuhl vom Heim gegenüber ist Corona-bedingt verlegt worden. Sie wird nun woanders an die frische Luft gestellt, denkt Kurt, aber das morgendliche Schwätzchen mit ihr, im Vorbeigehen, übers Wetter, die neue Weihnachtsbeleuchtung, ist aus seinem Leben verschwunden. Im Treppenhaus steht dafür ein Desinfektionsmittelspender. Kurt überlegt immer, ob es dieses Wort früher schon gab, aber er weiss, dass das Ding zum einzigen Berührungspunkt mit den Nachbarn geworden ist. Manchmal bestellt Kurt den Hauswart, obwohl er die Dichtung auch selbst hätte festziehen, die Birne selbst hätte wechseln können – so kann er immerhin den Mund auch jenseits des Essens und Trinkens mal aufmachen.
Kurt ist offenbar allein. Und damit nicht allein: In diesen Voradventstagen des Jahres 2020 schlendern Tausende von Kurts durch unsere Strassen. Bei flüchtiger Betrachtung hat sich für sie wenig verändert: Dieselben kleinen Runden, dieselben vier Wände, dasselbe Fernsehprogramm. Aber genau besehen sind er und die Seinen noch einsamer als in all den Jahren des Alleinseins vorher – denn wir anderen sind im hektischen Alltag mit Fallzahlen, Kinderbetreuungsausfällen, Kontakteinschränkungen und Kündigungswellen noch mehr mit uns selbst beschäftigt. Wir sehen die Kurts nicht mal mehr im Vorbeigehen. Und wenn wir sie doch mal grüssen, erschrecken sie sich beinah. Was wiederum uns erschrecken sollte.
In jedem Dorf, jedem Quartier, gibt es einen Kurt. Vielleicht mehrere. Wann, wenn nicht dieses Jahr, wäre der richtige Zeitpunkt, um sie mindestens mit Aufmerksamkeit zu beschenken. Ihre Routen sind bekannt, das Wetter ist das Wetter und die Weihnachtsbeleuchtung eh nicht mehr das, was sie mal war. Aber Lebkuchen ist, anders als Klopapier, auch in diesem verdammten Jahr stets ausreichend vorhanden.

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