TribüneVon der Demut
Publizist Michael Wiederstein über ein Wort, das nicht mehr so gebräuchlich ist. Meint man jedenfalls.

Was für ein antiquiertes Wort! Glaubt man Google Trends, so hat es in den letzten 15 Jahren stark an Popularität eingebüsst – mit Ausreisser einzig im Wirtschaftskatastrophenjahr 2009. Und offenbar interessieren sich die Menschen im Kanton St. Gallen stärker für den Begriff als diejenigen in Zug oder Luzern. Dass die «Demut» aus unserem täglichen Wortschatz beinahe verschwunden ist, zeugt davon, dass wir es mit ihr nicht allzu ernst meinen.
Mir kam das Wort auf einer Wanderung in der Churfirstenregion am frühen Morgen plötzlich wieder in den Sinn. Ich stand ausser Atem vor einer kolossalen Felswand, und die Sonne schob sich langsam über den Horizont. Meter für Meter krochen mir ihre Strahlen die Wand hinunter entgegen. Es war völlig ruhig. Und mit einem Mal kam ich mir so klein vor wie selten zuvor in meinem Leben. Demut, dachte ich. Die Einsicht, dass es etwas Unerreichbares, Höheres gibt, das du nicht beeinflussen kannst. Und die Akzeptanz dieses Umstands.
Ihr Gegenteil ist viel verbreiteter. Egal ob in politischen Diskussionen, Zeitungsleserbriefen oder im Alpinsport – der Hochmütige ist das Role-Model unserer Zeit. Vielleicht stehen wir 2020 deshalb alle ein wenig unter Schock, wenn am Laufmeter Dinge passieren, mit denen noch 2019 niemand rechnen wollte: Ein kleines Virus zwingt den «allmächtigen» Popanz Mensch zum Umdenken. Twitter löscht Geplärr von Donald Trump. Der FC Barcelona verliert 2:8 gegen die Bayern. Und die SBB verzeichnen erstmals weniger Passagiere als Stellwerkstörungen.
Mit all seinen Krisen gibt dieses Jahr, vor allem dieser zu Ende gehende Sommer, nun endlich Gelegenheit zur Wiederentdeckung der Demut. Das kann heilsam sein, uns nach einem Rückschlag voranbringen. Schön also, dass Google Trends aktuell wieder steigendes Interesse am Wörtchen nachweist – nicht nur in der Ostschweiz. Und ehe Mitleser aus St. Gallen nun meinen, sie könnten sich beruhigt zurücklehnen: nein. Ihr seid nicht demütiger! Es ist offenbar nur schwieriger, den Weg zu eurer Dreifachsporthalle im gleichnamigen Tal zu finden.

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