Rolle der Medien im Pentagon-LeakDieser Fall schreibt Geheimdienst- und Mediengeschichte
Das Leck ist eine Peinlichkeit für die US-Geheimdienste. Auch die amerikanischen Medien müssen sich unangenehme Fragen gefallen lassen.

Sie hat zwar unspektakulär geendet, die tagelange Jagd nach dem grössten Leck in den US-Geheimdiensten seit zehn Jahren. Umso spektakulärer ist damit jedoch das Versagen der US-Behörden zutage getreten. Ein 21-jähriger IT-Techniker konnte über Monate hinweg Staatsgeheimnisse ausdrucken und aus einer gesicherten Luftwaffenbasis herausschmuggeln, um mit Fotos davon seine Internetbekanntschaften zu beeindrucken. Niemandem in dem riesigen Sicherheitsapparat scheint das aufgefallen zu sein, niemand scheint infrage gestellt zu haben, ob das Mitglied einer Reservetruppe überhaupt Zugriff auf Hunderte solcher Dokumente haben sollte.
Nun könnte der junge Mann für Jahre hinter Gittern verschwinden: Am Freitag wurde er einem Richter vorgeführt und beschuldigt, gegen ein Antispionagegesetz verstossen zu haben. Das Verteidigungsministerium sieht dahinter «vorsätzliches kriminelles Verletzen strenger Vorschriften», wie ein Sprecher am Donnerstag sagte. Allerdings muss sich das Militär den Vorwurf gefallen lassen, dass seine Sicherheitsregeln nicht allzu wirkungsvoll sein können. Der Verdächtige wirkt nicht wie ein ausgefuchster Verbrecher, sondern wie ein verwirrter junger Mann, der von der Highschool direkt in die Reserveeinheiten der Luftwaffe übertrat und sich aus der Einsamkeit während der Covid-Pandemie in Onlinefreundschaften flüchtete.
Medien im Wettlauf mit den Ermittlern
Um Eindruck zu schinden, teilte er dort monatelang Geheimdienstinformationen über weltpolitische Vorgänge, die durchaus auch gefestigtere Gemüter erschüttern. Doch erst als die Dokumente in prorussischen Telegram-Kanälen die Runde machten, begann eine hektische Jagd nach dem Leck. Auch dabei machten Militär, Geheimdienste und Bundespolizei FBI keine gute Figur. Tagelang scheinen sie im Dunkeln getappt zu sein, während der private Recherchedienst Bellingcat längst zahlreiche Hinweise auf das Leck publiziert hatte.
Denkbar ist indes auch, dass die Behörden den Mann observierten und die US-Medien die Ermittler zu einem Eilzugriff gezwungen haben. Das Vorgehen der Medienhäuser war – vorsichtig ausgedrückt – bemerkenswert: Sie lieferten sich einen Wettlauf mit den Ermittlern, um den Täter aufzuspüren. Die «Washington Post» war am Mittwoch nahe dran. Doch war am Ende die «New York Times» schneller, indem sie mit Bellingcat zusammenspannte und Onlineprofile des Verdächtigen auswertete. Schliesslich enttarnte sie ihn, indem sie Instagram-Fotos seiner Schwester mit Hintergrunddetails der Aufnahmen der Geheimdokumente verglich.
An der Nennung des Namens eines Verdächtigen stört sich in den USA kaum jemand; das ist alltäglich und gilt nicht als Vorverurteilung, während die Medien damit in Europa viel zurückhaltender sind. Auch diese Redaktion nennt den Namen des Verdächtigen nicht. Die «New York Times» hingegen publizierte seinen Namen bereits vor seiner Verhaftung, auf die Gefahr hin, ihn vorzuwarnen.
Pflicht der Abwägung
Die Rechercheleistung der US-Medien verdient Respekt, die schnelle Analyse von öffentlich zugänglichen digitalen Informationen ermöglicht einen Quantensprung an Transparenz. Doch haben Journalisten auch die Pflicht, Nutzen und Schaden der möglichst schnellen Publikation solch persönlicher und heikler Informationen abzuwägen. In den USA gelten dafür andere Standards als in Europa, gerade bei Verbrechen, fussend auf der amerikanischen Tradition, dass Justiz nicht nur Sache der Behörden, sondern des ganzen Volkes ist.
Im Wettlauf mit der Konkurrenz scheinen nun aber sämtliche Grenzen zu fallen. Die Journalisten nahmen beträchtliche Risiken in Kauf, als sie Stunden vor der Polizei das Haus des 21-Jährigen aufsuchten, von dem sie wussten, dass er militärisches Training absolviert hatte, Waffen besass und unter enormem Druck stand. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass eine derart spektakuläre Jagd ein unspektakuläres Ende nimmt.
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