US-Sicherheitsexperten rätselnWarum hatte der Leaker Zugang zu den Geheimdokumenten?
Der 21-Jährige, der die Infos ins Internet lud, war ein tiefrangiger Mitarbeiter der Nationalgarde. War sein Zugriff auf Geheimdokumente «unangemessen und unnötig»?
Wie gelangte ein 21-jähriger Computer- und Netzwerktechniker der Nationalgarde in Massachusetts an Hunderte Geheimpapiere zum Krieg in der Ukraine? Fachleute zum Thema sind sich uneinig, ob der junge Mann die Dokumente überhaupt benötigte oder nicht. Sicherheitsexpertin Juliette Kayyem war von 2006 bis 2009 für ebendiese Nationalgarde in Massachusetts zuständig und weiss, wie dort gearbeitet wird. In einem Meinungsartikel für «The Atlantic» zeigt sich Kayyem fassungslos über das Leck und schreibt, dass sie keinen Grund sehe, weshalb der junge Mann Zugriff auf diese Papiere gehabt habe.
Die Nationalgarde sei normalerweise für die Sicherheit im Bundesstaat verantwortlich und könne beispielsweise bei Unruhen, grossen Sportanlässen oder Katastrophen eingesetzt werden, erklärt die ehemalige Verantwortliche im Ministerium für Innere Sicherheit. Die Nachrichtendiensteinheit auf dem Luftwaffenstützpunkt kümmere sich um mögliche Feindkontakte auf dem Luftweg oder verirrte Ballone, aber auch dies auf Staatsebene. Es sei nach ihrer Erfahrung zu urteilen absolut unangemessen und unnötig, dass ein tiefrangiger Mitarbeiter dieser Einheit überhaupt Zugriff auf Dokumente über einen Krieg erhalte, an dem die USA nicht aktiv beteiligt seien und der kein Risiko für die innere Sicherheit bedeute.
Dass der 21-Jährige dies ausgenützt und das Material verbreitet habe, sei sein Fehler und eine Straftat, sagt Kayyem, aber man müsse nun schleunigst dafür sorgen, dass solche Mitarbeitenden keinen Zugriff mehr auf nationale Geheimdokumente hätten, die sie für ihre Arbeit gar nicht benötigten.
CNN-Experte: Einheit fliegt internationale Drohneneinsätze
CNN-Nachrichtendienstexperte John Miller sagt hingegen, dass die Arbeit der 102. Nachrichtendiensteinheit der Nationalgarde in Massachusetts viel weitreichender und internationaler sei. Sie fliege beispielsweise Drohneneinsätze im Irak, in Afghanistan und Syrien oder unterstütze geheime Spezialmissionen mit Drohnen. Deshalb brauchten diese Mitarbeitenden tatsächlich Zugang zu allen möglichen Geheimdienstdokumenten, da sie an unterschiedlichen Orten gegen Bedrohungen vorgingen, sagt Miller. Zudem habe die Einheit auch Aufgaben im Rahmen der Cybersicherheit, und dort sei das Gebiet nochmals viel weitreichender.
Gemäss Angaben der «New York Times» arbeitete der verhaftete 21-Jährige im Bereich «Cybertransport Systems», welcher für die Kommunikationsnetzwerke der gesamten US-Luftwaffe zuständig ist. Ob er für seine Arbeit dort Zugriff auf Geheimdokumente benötigte oder ob er diese durch seine Tätigkeit beschaffen konnte, ist nicht bestätigt. Die Militärbasis in Massachusetts gab den Reportern der Zeitung keine weiteren Auskünfte über die Einheit und deren Aufgaben.
Der «Washington Post» sagte ein Militärmitarbeiter, dass der 21-Jährige in seinem Job Zugriff auf ein weltweites Nachrichtendienstsystem gehabt habe. Damit hätte er die nun veröffentlichten Dokumente zumindest lesen, womöglich auch herunterladen oder ausdrucken können. Die Nationalgardeneinheit in Massachusetts sei selber nicht an aktiven Einsätzen beteiligt, sondern habe eine unterstützende Funktion, beispielsweise im Nachrichtendienst für aktive Luftmissionen, sagt die anonym bleibende Quelle weiter.
Der Leaker trat schon als 18-Jähriger in Nationalgarde ein
Diskussionsthema in den USA ist auch das Alter des Verhafteten. Der Netzwerktechniker trat 2019 noch während der High School in die Nationalgarde ein, da war er gerade mal 18 Jahre alt. Die meisten Personen, die in den USA in einen Militärdienst einträten, seien sehr jung, das sei die Realität, sagt CNN-Experte Miller. Ein Problem sieht er darin aber nicht, denn für alle Mitarbeitenden finden umfassende Hintergrundüberprüfungen statt, bevor sie Zugang zu Geheimdokumenten erhalten. Die grosse Mehrheit sei vertrauenswürdig und halte sich an den geschworenen Eid. Aber es werde wohl immer Leute geben, die ihren Eid und ihr Land verraten und Geheimnisse teilen würden.
Pentagon-Sprecher Pat Ryder versichert derweil, dass das Verteidigungsministerium die Personenzahl, die Geheimdokumente einsehen könne, als Reaktion auf das Leck bereits beschränkt habe. Bislang könnten gemäss einem Kongressbericht von 2020 bis zu einer Million Menschen in den USA solche Papiere abrufen, sagt Sicherheitsexperte Mark Zaid. Dabei hätten viele Mitarbeitende Zugriff auf viel mehr Dokumente, als sie tatsächlich benötigten, und müssten selbst kontrollieren, was sie tatsächlich abrufen würden. Das sei schon bei Edward Snowden der Fall gewesen, erklärt Zaid.
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