US-Geheimdokumente verbreitetFBI nimmt 21-jährigen Nationalgardisten fest
Der Kopf einer Online-Gruppe, in der US-Geheimdokumente aufgetaucht sind, ist identifiziert. Es handelt sich um einen Mitarbeiter des Militärs, wie Justizminister Merrick Garland bestätigte.
Ein 21-jähriger Soldat der Nationalgarde in Massachusetts wurde von der Bundespolizei FBI festgenommen, weil er in Verbindung gebracht wird mit dem grössten Leak von US-Geheimdokumenten seit zehn Jahren. Das berichteten die «New York Times» und der US-Sender CNN am Donnerstag übereinstimmend. CNN zeigte Bilder von der Festnahme im Fernsehen. Der Mann sei in Verbindung mit der «unbefugten Entfernung, Aufbewahrung und Übermittlung von Verschlusssachen» ohne Zwischenfall in Gewahrsam genommen worden, sagte US-Justizminister Merrick Garland in Washington. Weitere Details gab er nicht bekannt.
Die «New York Times» hat den Mann mit Namen identifiziert. Demnach handelt es sich um einen Mitarbeiter des Nachrichtendienstes der Air National Guard, der Reserve der US-Luftwaffe, die Stützpunkte in verschiedenen Bundesstaaten betreibt. Das FBI fuhr vor dem Elternhaus des Mannes im Bundesstaat Massachusetts vor. Etwa ein halbes Dutzend FBI-Agenten verschafften sich Zugang zum Grundstück.
Die Zeitung hat Fotos auf Online-Profilen des Mannes ausgewertet und dabei Übereinstimmungen gefunden mit Fotos der Geheimpapiere, die in den vergangenen Tagen in sozialen Medien die Runde gemacht haben. Der Hintergrund von Familienfotos im Elternhaus des Mannes würde Details am Rande der Aufnahmen von Geheimdienstakten entsprechen.
US-Beamte hatten der «New York Times» bestätigt, dass sie den 21-Jährigen im Zusammenhang mit dem Leck suchten, sie betrachteten ihn jedoch bisher nicht formell als Beschuldigten. Kurz zuvor hatte US-Präsident Joe Biden am Rande seines Besuchs in Irland gesagt, das FBI und das Justizministerium «stehen kurz davor», das Leck aufzuspüren.
Sie nannten ihn «Original Gangster»
Unter Verdacht geraten war der Mann, nachdem die «Washington Post» und das Recherchenetzwerk «Bellingcat» die Spur der Dokumente bis in eine geschlossene Online-Gemeinde namens «Thug Shaker Central» zurückverfolgt hatten. Er sei als Administrator der Gruppe tätig gewesen und habe dort den Übernamen «OG» getragen, kurz für «Original Gangster», eine Internetslang-Bezeichnung für eine herausragende Person.
Mehrere Mitglieder der Gruppe identifizierten OG als Quelle des grössten US-Geheimdienstlecks seit Edward Snowden, das seit vergangener Woche Washington umtreibt. Bisher war bekannt, dass dabei über 100 Fotos von Geheimakten im Internet veröffentlicht wurden, die brisante Angaben über den Krieg in der Ukraine enthalten. Journalisten der US-Zeitung wollen nun rund 300 Fotos sowie weitere Text-Dokumente mit Geheiminformationen zu Gesicht bekommen haben. OG soll seit mehr als einem halben Jahr hochgeheimer Informationen von seinem Arbeitsplatz herausgeschmuggelt und mit seinen Internetbekanntschaften geteilt haben. (Podcast: Wie fatal ist das Leck bei den US-Geheimdiensten?)
Die Geheimdokumente befanden sich zunächst nur in der geschlossenen Chatgruppe. Vor etwas mehr als einem Monat lud eines der Mitglieder einen Teil der Unterlagen in andere Chatgruppen hoch – bis sie vergangene Woche in Telegram-Gruppen und auf Twitter landeten.
Wie aus einem Agententhriller
Der Leaker ist laut den von der «Washington Post» befragten Zeugen Anfang zwanzig, sie beschreiben ihn wie den Actionhelden Jason Bourne, den der Schauspieler Matt Damon in den Agententhrillern spielt. «Er ist fit. Er ist stark. Er ist bewaffnet. Er ist ausgebildet. So ziemlich alles, was man in einem verrückten Film erwarten würde», sagte eines der Mitglieder der Onlinegemeinde der Zeitung. Sie hat Videos von Interviews mit dem minderjährigen Zeugen veröffentlicht.
Der Teenager ist darauf unkenntlich gemacht, auch hält die Zeitung seinen Namen geheim; er sei möglicherweise schweren Straftaten ausgesetzt worden, als OG hochgeheime Informationen mit ihm geteilt habe. Untermauert habe der Zeuge seine Angaben mit verschiedenen Unterlagen, darunter Chatprotokollen sowie Audio- und Videoaufnahmen von OG. Ein Video zeige den Mann in einer Schiessanlage mit einem grossen Gewehr, mit dem er auf eine Zielscheibe feuere – nach einer Salve von rassistischen und antisemitischen Sprüchen.
Die Hälfte der zwei Dutzend Mitglieder der Chatgruppe befanden sich in der Ukraine und anderen Ex-Sowjetrepubliken.
Die von der «Washington Post» befragten Zeugen bestreiten, dass ihre Onlinegemeinde mit rund zwei Dutzend Mitgliedern eine Brutstätte für Faschisten war. Doch habe sich der Anführer verschiedentlich über «government overreach» beschwert. Die angebliche Übergriffigkeit der Regierung in Washington ist in rechten Kreisen in den USA ein weitverbreitetes Topos, besonders bei Waffennarren. Rassistische Memes waren in der Gruppe geläufig.
Überprüfen lassen sich die Recherchen der «Washington Post» vorerst nicht. Doch decken sich die Angaben mit den Spuren, die zuvor Bellingcat ausfindig gemacht hatte. OG soll vor mehr als einem halben Jahr damit begonnen haben, Geheimdokumente abzutippen; später habe er die Akten fotografiert und Hunderte solcher Fotos hochgeladen. Zu sehen seien darauf auch eine rot leuchtende Computertastatur, das Bettzeug und Gegenstände wie Leim der Marke Gorilla Glue, Nagelknipser und das Handbuch für ein Zielfernrohr.
OG würde er nicht als Whistleblower bezeichnen, sagte dessen Onlinebekannter der «Washington Post». Die Zeitung schreibt, ihr Zeuge habe jegliche Vergleiche mit Edward Snowden abgelehnt, der vor zehn Jahren Millionen von Dokumenten mit Journalisten teilte, um illegale Abhörmethoden der US-Geheimdienste öffentlich zu machen. OG hingegen habe mit den geheimen Unterlagen nur seine Onlinefamilie beeindrucken wollen. Auch sei er bestimmt kein Doppelagent für Russland oder die Ukraine, worüber seit Bekanntwerden des Leaks viel spekuliert worden war.
Allerdings ist nicht auszuschliessen, dass die Chatgruppe von Geheimdienstagenten unterwandert war. Die Hälfte der zwei Dutzend Mitglieder befand sich laut Angaben der Gruppenmitglieder nicht in den USA, sondern unter anderem in der Ukraine und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken.
Weitere Enthüllungen sind absehbar
Wie viele US-Geheimdokumente geleakt wurden, ist noch immer nicht bekannt. Da sich die «Washington Post» aber inzwischen im Besitz von mehreren Hundert Fotos befinden will, dürften in den nächsten Tagen häppchenweise weitere Geheimnisse ans Licht kommen. Deswegen wird der potenzielle Schaden für die US-Geheimdienste doch immer wieder mit dem Fall Edward Snowden vor zehn Jahren verglichen.
In der Nacht auf Mittwoch berichtete die «New York Times» etwa über Auseinandersetzungen im russischen Sicherheitsapparat: Der Geheimdienst FSB habe dem Verteidigungsministerium vorgeworfen, die Zahl gefallener russischer Soldaten viel zu tief auszuweisen.
Die «New York Times» berichtet, Russland habe um ein Haar ein bemanntes britisches Überwachungsflugzeug abgeschossen.
Zuvor war die Regierung Serbiens in Verlegenheit geraten, weil sie laut den Unterlagen Waffenlieferungen an die Ukraine zugesagt hatte, obwohl sie doch eigentlich mit Russland beste Beziehungen pflegt. Für Washington peinlich war ein Bericht der BBC, wonach die USA Antonio Guterres ausspähen, den UNO-Generalsekretär, der in den Unterlagen als zu konziliant gegenüber Russland dargestellt wurde. (Mehr dazu: Das US-Leak wird zum Verwirrspiel.)
Auf der Basis der Akten hatte die «New York Times» früher am Mittwoch berichtet, Russland habe um ein Haar ein bemanntes britisches Überwachungsflugzeug abgeschossen. Ein russischer Kampfjetpilot habe einen Befehl aus seiner Zentrale falsch verstanden und eine Rakete auf die britische RC-135 abgefeuert. Zur Katastrophe sei es einzig darum nicht gekommen, weil die Rakete nicht richtig gestartet sei, wie aus den US-Geheimunterlagen hervorgeht, in denen von einem «Beinahe-Abschuss» die Rede ist. Die Regierung in London hatte den Vorfall bisher nur als «möglicherweise gefährlich» beschrieben.
Ein britischer Verteidigungsbeamter teilte der «New York Times» als Antwort lediglich mit, ein grosser Teil des Inhalts der Dokumente sei falsch, manipuliert oder beides. Auch andere Regierungen haben in den vergangenen Tagen versucht, Zweifel am Wahrheitsgehalt der geleakten Akten zu streuen, während US-Beamte die Authentizität der Unterlagen hinter den Kulissen weitgehend bestätigten.
US-Präsident Joe Biden versuchte bei seinem Besuch in Irland, die Bedeutung herunterzuspielen: Es sei nichts von grosser Tragweite publik geworden. «Ich bin nicht beunruhigt über das Leak», sagte Biden, und räumte dann doch ein: «Ich bin beunruhigt, dass es geschehen ist.» Er versicherte, die Sicherheitsbehörden stünden «kurz davor», das Leck zu finden.
Fehler gefunden?Jetzt melden.