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Gegenbewegung zur Hektik
Wieso immer mehr Menschen asketisch leben wollen

Asia, Indonesia, Bali, Ubud, man practicing Tai Chi on Ayung river, with mist in forested area.
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Manchmal braucht es nicht viel mehr als frische Morgenluft. Einfach atmen genügt, um sich für das in diesem Moment Wesentliche – den Beginn des neuen Tages – zu öffnen.

Das wussten schon die antiken Philosophen und die Mystiker im Mittelalter. Darum rieten manche von ihnen zur Morgenandacht, zur Meditation und zu einem einfachen, sprich asketischen Lebensstil. Denn sie waren alle der Meinung: Weniger ist mehr.

Damit meinten sie: Weniger Besitz bedeutet mehr Bewusstsein, denn wer weniger Besitztümer anstrebt und nicht überall dabei sein muss, sondern auch die Stille sucht, gewinnt Zeit für Wichtigeres. Für Gedanken, Kreativität und Klarheit – und nicht zuletzt für die Kontrolle über seinen Körper und das eigene Leben.

Minimalismus – weniger ist mehr

Ob das Spass macht? Und ob! Denn der Asket kann der grösste Geniesser sein, weil er weiss: Nach langem Verzicht ist der Genuss doppelt so gross. Egal, ob es sich um ein Entrecôte oder ein geselliges Beisammensein handelt.

Schon die französische Schriftstellerin Louise d’Épinay (1726–1783) sagte: «Enthaltsamkeit ist das feinste und delikateste aller Lustgefühle.» Damit dürfte die Frau, die in Paris einen literarischen Salon führte, weitaus mehr als nur die kulinarische Askese gemeint haben.

Die Askese kann durchaus lustvoll sein. Das weiss jeder Mensch, der im Januar auf alkoholische Getränke verzichtet und nach der Enthaltsamkeit darüber staunt, wie gut ein Schluck Wein sein kann.

Ordnung für Glücksgefühle

Ähnliche Erfahrungen lassen sich beim Essen, in Bezug auf Freundschaften oder beim Shopping machen. Wer bei den Genüssen masshält, erfährt deren Glück intensiver. Ein gutes Beispiel? Ein reduzierter Kleiderschrank schafft klare Verhältnisse und viel Freude an den wenigen, aber guten Stücken. Zudem befreit er von der alltäglichen und bekannten «Was soll ich bloss anziehen?»-Stresssituation.

Diese neu gewonnene Freiheit empfinden viele Menschen als wohltuend. Die Bewegung, die sich Minimalismus nennt und aus den USA stammt, wird immer grösser: Ihre Anhänger entdeckten, dass weniger nicht nur mehr, sondern auch besser für sie ist. Obwohl die Werbung nach wie vor suggeriert, dass wir niemals genug von allem haben können. Von diesem Lebensstil profitieren jedoch in der Regel nicht wir, sondern die Hersteller der Produkte.

Minimalismus in der Gesellschaft

Modern Tiny House In Woodland

Der Sammelbegriff Minimalismus vereint verschiedene Ideen, die ein einfacheres Leben ermöglichen sollen: Weniger besitzen, weniger konsumieren, weniger arbeiten, auf kleinem Raum wohnen und auf kleinem Fuss leben. Die moderne Form der Bewegung existiert seit den 2010er-Jahren.

Diese wiederentdeckte Lust an der Genügsamkeit erobert derzeit viele Bereiche. Noch nie sind so zahlreiche Bücher erschienen, die sich damit beschäftigen: mit der Kunst des einfachen Lebens, dem Einrichten von Tiny Houses oder dem Intervallfasten. Selbst zum Ausmisten von Kleiderschränken finden sich Anleitungen.

Diese Ratgeber verkaufen sich gut. Denn in einer immer komplexer werdenden Welt sehnt sich der Mensch nach Übersicht – ob im Kleiderschrank, im Haushalt oder beim Essen.

Einige Restaurants, darunter auch solche von Spitzenköchen, bieten seit einiger Zeit statt zehn oder sogar zwanzig Menüs nur noch zwei an, um dem wachsenden Bedürfnis nach Reduktion gerecht zu werden. Mit dem Resultat, dass sie gut besucht sind. Denn auch hier gilt: In Zeiten des Überflusses hilft ein kleineres Angebot, sich stressfreier entscheiden zu können.

Marie Kondo

«Wie viele Dinge es doch gibt, die ich nicht brauche», sagte der griechische Philosoph Sokrates (469–399 v. Chr.) einst. Damit hörte er sich vor rund 2500 Jahren ähnlich an wie die heutige japanische «Königin des Ausmistens»: Marie Kondo. Mehr als 7 Millionen Menschen haben ihre Bestseller gekauft, in denen die 40-jährige Aufräumberaterin für eine moderne Form der Askese wirbt. Natürlich hat die Lifestyle-Expertin nicht nur Fans, aber was sie empfiehlt, trifft auf ein tiefes Bedürfnis nach Klarheit: «Frag dich bei jedem Stück, bringt es dir Freude? Wenn nicht, bedanke dich und lass es los», heisst ihr Rat.

Altes Wissen, neu entdeckt

Wozu es gut sein soll, weniger Kleider und weniger Dinge zu besitzen? Marie Kondo verspricht: «Schon bald wirst du dich leichter und erfüllter fühlen.» Zu der Erkenntnis kamen bereits die Griechen. «Die grösste Freiheit liegt im Verzicht», verkündete Diogenes von Sinope (413– 323 v. Chr.), der freiwillig in Athen in einem Fass hauste. «Um glücklich zu sein, braucht es nicht viel», sagt auch Marie Kondo, die das Aufräumen vor einigen Jahren nahezu zur Religion erhoben hat. Ihre Philosophie könnte gut aus der Antike stammen.

Minimalismus und Askese sind also kein neuer Trend. Historische Beispiele dafür gibt es viele – von Diogenes und Epikur bis zum Obwaldner Mystiker Niklaus von Flüe (1417–1487). Dieser zog sich im Alter von 50 Jahren in seine äusserst bescheidene Klause zurück, lebte seine letzten 20 Jahre als Einsiedler und verzichtete dabei bewusst auf Wohlstand. Denn im ungestörten Gebet, Nachdenken und Fasten hoffte er näher bei Gott zu sein.

Niklaus von Flüe (1417–1487), der bekannteste Schweizer Asket

B2J32E Nicholas of Flue, 1417 - 21.3.1487, Swiss hermit, ascetic, mystic, Saint,  with rosary in front of landscape with chapel, altarpiece, altar piece, 1492, Sachseln, ,

Er lebte mit seiner Frau Dorothee, fünf Töchtern und fünf Söhnen im Flüeli ob Sachseln OW. Dort hat der Bauer und Richter ein stattliches Haus gebaut und einen grossen Hof betrieben. Mit 50 stürzte er in eine tiefe Sinnkrise. Er legte seine Ämter nieder und verliess nach langem Ringen – mit dem Einverständnis seiner Frau – Hof und Familie. Fortan lebte er als Asket, Einsiedler und meditierender Mystiker in einer Klause aus Holz in der Ranftschlucht. Bald suchten ihn Menschen auf, sogar Staatsoberhäupter kamen auf Besuch, um bei Bruder Klaus Rat zu holen. Sein Einfluss war gross, so verhinderte das Stanser Verkommnis Ende des 15. Jahrhunderts dank einem Ratschlag von Bruder Klaus das Zerfallen der Eidgenossenschaft. Niklaus von Flüe gilt als Schutzpatron der Schweiz. Er wurde 1947 heiliggesprochen, sein Festtag ist der 25. September.

Verzicht als Religion

Menschen waren schon immer experimentierfreudig und fragten sich irgendwo mitten in der Wüste oder in einer simplen Behausung im Wald: Kann ich da wirklich leben? Bringt es mich am Ende näher zum Wesentlichen? Oder näher zu Gott? Manche dieser Ideen haben Jahrhunderte überdauert und fanden immer wieder neue Anhängerinnen und Anhänger. Das griechische Verb «askein», das dem Wort Askese zugrunde liegt, bedeutet «üben». In jeder Weltreligion gehört die Askese, etwa das Fasten vor Ostern im Christentum, ganz selbstverständlich dazu.

Askese in den Religionen

W4AGK5 Varanasi, INDIA - CIRCA NOVEMBER 2018: Portrait of a Sadhu in Varanasi. The Sadhus or Holy Man are widely respected in India. Varanasi is the spiritua

Die Wüstenväter waren frühchristliche Mönche, die als Eremiten oder in Gruppen ab dem späten 3. Jahrhundert in den Wüsten Ägyptens und Syriens lebten. Die Bescheidenheit gehörte zu ihrem Alltag genauso wie heute noch bei den Sadhus, den «heiligen Männern» in Indien. Manche von ihnen schneiden sich weder Haare noch Fingernägel, um auch in Sachen Körperpflege Verzicht zu üben. – Die Askese spielt ebenso bei den Amischen eine grosse Rolle. Nach dem Kirchenältesten Jakob Ammann benannt, einem Mann aus Erlenbach im Simmental BE, flohen die Mitglieder der im Jahr 1525 gegründeten Täuferbewegung um 1700 von Europa nach Amerika, weil sie wegen ihres Glaubens verfolgt wurden. Seither führen die «Amish People», wie sie sich dort nennen, ein in der Landwirtschaft verwurzeltes Leben. Ihr Lebensstil ist bescheiden und schlicht, technische Neuerungen werden kaum akzeptiert, weil sie vom Wesentlichen ablenken.

Viel Luxus kann angenehm sein, allerdings auf Dauer auch langweilig werden. Im Einklang mit der Natur aber muss der Mensch improvisieren, seine Fantasie und seine Kreativität sind gefordert – fernab von häuslicher Deko und anderem Schnickschnack. «Ich möchte im Rhythmus der Jahreszeiten leben, möglichst nah an der Natur», sagt denn auch Silvia Müller, 56. Vor einem Jahr ist die Kräuterexpertin mit ihrem Mann Ueli aus einem grossen Haus in Finsterhennen BE nach Albinen VS in zwei Hotelzimmer gezogen. Das Paar will da eine Ökogemeinschaft gründen. Nach dem Motto: «Für ein grosses Ziel reicht schon ein kleiner Garten in den Bergen.»

Silvia Müller, 56, Kräuterexpertin in St. Albinen/VS

In Albinen führen sie das «Haus Rhodania», in dem sie derzeit leben, und bewirtschaften einen Heilpflanzengarten. Nebenan befindet sich das Bauland, auf dem zehn Mini-Chalets für die altersdurchmischte Gemeinschaft geplant sind. «Bevor wir hierhergezogen sind, haben wir uns von vielen Sachen getrennt», sagt die Gründerin der Ökogemeinschaft, die auch Kurse in Heilpflanzenkunde, Naturkosmetik und Fastenwandern anbietet.

Gemeinsam statt einsam

Zu einer modernen Askese kann ebenso gehören, dass sich mehrere Menschen ein Zuhause teilen. Die Schweizer Krimi-Bestsellerautorin Christine Brand, 51, lebt auf der Insel Sansibar und in einem Mansardenzimmer eines alten Hauses in Zürich. Hier teilt sie sich den Dachstock mit zwei jungen Frauen. «Es gibt einen gemeinsamen Aufenthaltsraum, eine Dusche und ein WC. Eine Küche haben wir keine», sagt sie. «Aber mit zwei Herdplatten, einem Kühlschrank und etwas Improvisationswillen kriegen wir alles problemlos hin.»

Ist als schreibende Nomadin unterwegs: Christine Brand auf Sansibar.

Mit ihrem ersten grossen Buchvertrag in der Tasche kündigte Christine Brand vor sieben Jahren ihre Stelle als Journalistin bei der «NZZ am Sonntag». Ein mutiger Schritt. «Ich gab meine Wohnung auf – und praktisch all mein Hab und Gut weg», sagt sie, «um fortan als schreibende Nomadin unterwegs zu sein. Der Abwurf von Ballast brachte im wörtlichen Sinn Erleichterung: Nie zuvor habe ich mich so frei gefühlt.»

Christine Brand ist nicht die einzige Autorin, die mit leichtem Gepäck durchs Leben geht. 1845 – am 4. Juli, dem Unabhängigkeitstag der USA – zog der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau (1817–1862) in eine Blockhütte. Der damals 27-jährige Aussteiger wollte in den zwei Jahren dort in Erfahrung bringen: Was ist ein gutes Leben? Seine Erlebnisse als Einsiedler hielt er im Buch «Walden» fest, das ein Weltbestseller wurde und gerade wieder viele Leserinnen und Leser begeistert. Thoreaus Erkenntnis: Wer seine Bedürfnisse auf ein Minimum reduziert, gewinnt Freiraum, um das Leben zu geniessen, braucht wenig Geld – und lernt zum Beispiel, seine Schuhe selbst zu flicken.

Auch in der bekannten «Niels Oxen»-Krimireihe des dänischen Autors Jens Henrik Jensen, 61, steht ein Protagonist im Zentrum, der im Wald lebt: Weit weg von Grossstadt und Polizeirevieren schlägt Niels Oxen im Wald sein Lager auf und löst Kriminalfälle. Ein moderner Asket, der nur das Nötigste zum Leben braucht: einen Schlafsack, Kochgeschirr, Zahnbürste, Streichhölzer und etwas Kleidung.

Cobbler workshop with leather, threads and tools

Ein zukunftsweisender Lebensstil – denn die Tatsache, dass die Menschheit seit 1990 mehr fossile Brennstoffe verbrannt hat als je zuvor, macht aus der Askese eine neue Tugend. «Wir brauchen andere Definitionen eines guten Lebens», sagt der deutsche Historiker Philipp Blom, 54, «weniger Konsum, weniger Besitz und stärkere Gemeinschaften.»

Mit diesen Gedanken kann morgens, beim bewussten Einatmen der frischen Morgenluft, eine neue Lust entstehen: sich auf das Experiment «Weniger ist mehr» einzulassen.

Dieser Artikel erschien erstmals am 5. Novemver 2024, wir publizieren ihn hier nochmals in einer aktualisierten Version.