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Interview zum Entrümpeln im Alter
«Wir alle haben Angst davor, dass die Erinnerung verloren geht»

Theresa Ulrich
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Theresa Ulrich berät Menschen, die Ballast loswerden wollen. Gerade ab einem gewissen Alter sei es empfehlenswert, seinen Besitz zu dezimieren, sagt Ulrich. Wozu das gut sein soll und wie es am besten gelingt, erklärt der 44-jährige Minimalismus-Coach im Interview. Ausserdem verrät sie, was man anstelle von Gegenständen unbedingt an die nächste Generation weitergeben sollte.

Was werden Sie unter keinen Umständen entsorgen, weil es einmal Ihre beiden Kinder bekommen sollen?

Theresa Ulrich: Als Einziges wahrscheinlich die Kinderfotos. Ich selbst habe nur ein einziges Erbstück von der Oma, das ich weitergeben könnte: ein Schmuckkästchen – aber ob meine Jungs das toll fänden? Ich denke, viel wichtiger sind Erlebnisse, die die Kinder dann im Herzen und im Gedächtnis tragen. Statt Gegenständen möchte ich ihnen Immaterielles mitgeben wie Werte, gemeinsame Zeit und Erinnerungen.

Als Minimalismus-Coach liegt Ihr Fokus bislang darauf, Struktur in Familienhaushalte zu bringen, nun wenden Sie sich einer anderen Zielgruppe zu. Beim «Swedish Death Cleaning» geht es um das Aufräumen jenseits der Lebensmitte. Was war der Auslöser?

Immer wieder werde ich, meist von Frauen, angesprochen, die grosse Angst vor dem Moment des Ausräumens ihres Eltern- oder Schwiegerelternhauses haben. Darum fiel mir das Buch «Frau Magnussons Kunst, die letzten Dinge des Lebens zu ordnen» der Schwedin Margareta Magnusson wieder ein, das sich damit beschäftigt, das Haus vor dem eigenen Tod in Ordnung zu bringen. Ausserdem starb Anfang des vergangenen Jahres meine Oma, die zehn Jahre lang von meiner Tante zu Hause gepflegt worden war.

Die war sicher froh, dass Sie als Fachfrau ihr helfen konnten, die Wohnung auszuräumen …

Ich konnte ihr konkrete Vorschläge machen, zum Beispiel, Fotos von Möbeln oder Gegenständen mit der Frage in die Familiengruppe zu stellen: «Wer will was?» Das sollte man im Übrigen schon zu Lebzeiten tun. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder die Sachen werden direkt «mit warmen Händen» verschenkt – das Schmuckkästchen habe ich schon vor 20 Jahren von der Oma bekommen. Will man die Dinge vorerst noch behalten, kann man die Namen der späteren Empfänger auf Rück- oder Unterseite kleben.

Das klingt im Prinzip ganz einfach.

Ja und nein. Sich dem Loslassen zu stellen, ist die grosse Herausforderung. Und dem Gedanken: Meine Zeit ist endlich, irgendwann werde ich nicht mehr da sein. Oft ist das ein Tabuthema, über das man nicht gern nachdenken und erst recht nicht mit den Kindern reden will. Aber: Wenn man es nicht tut, ist das Chaos vorprogrammiert.

Wann ist dann der richtige Zeitpunkt dafür?

Margareta Magnusson empfiehlt, mit 40 anzufangen – meiner Meinung nach sollte man spätestens mit 60, 65 Jahren starten. Der Moment, in dem etwas passiert, kommt immer früher, als man denkt. Eine gute Gelegenheit, seinen Besitz auf den Prüfstand zu stellen, sind Zäsuren wie ein Umzug, der Auszug der Kinder oder der Eintritt ins Rentenalter. Dann hat man auch Zeit, seine Sachen dahingehend durchzusehen, was man im neuen Lebensabschnitt noch oder nicht mehr braucht.

a woman organizes clothes in living room of her home.

Wie sollte man da vorgehen? Nach dem System der Triage, also: behalten, verschenken, ab in den Müll?

Für die, die sich nicht gut trennen können, ist das kein gutes Vorgehen. Die sollten per Positivauswahl nur das aussuchen, was ihnen gefällt. Alles Übrige geht besser in eine Kiste mit Datum, die man zwei Monate später wieder rausholt. Dann sehen die Dinge anders aus, als wenn sie im Schrank stehen – man bekommt ein bisschen Abstand.

Hilft es auch, gemeinsam auszumisten?

Ja, man könnte sich am Sonntagnachmittag treffen: Kaffee trinken, Kuchen essen, Fotos anschauen, von früher erzählen oder Sachen aufteilen. Wobei das in meinen Augen gar nicht so entscheidend ist.

Wie meinen Sie das?

Es gibt ein Buch, dessen Titel das gut zusammenfasst: «Keep the Memories, Lose the Stuff». Wir alle haben Angst davor, dass die Erinnerung verloren geht. Weil wir glauben, sie so bewahren zu können, heben wir Dinge auf. Das stimmt aber eigentlich nicht. Ein Beispiel: Ich habe eine Vase von meiner Oma, 70er-Jahre, dänisches Design. Aber die viel emotionalere Erinnerung an sie ist der Geruch, wenn ich Äpfel aufschneide oder Griesbrei koche. Dann denke ich an sie.

Wenn man nicht weiss, wo anfangen mit dem Aussortieren …

… beginnt man mit etwas Einfachem. Alles, was nicht so emotional ist. Darum Fotos und Tagebücher erst ganz zum Schluss. Man sollte nicht alles auf einmal angehen wollen, lieber das grosse Projekt in kleine Einzelaufgaben unterteilen.

Wie könnten die aussehen?

Statt Zimmer für Zimmer durchzugehen, besser in Kategorien einteilen: also sämtliche Kleidungsstücke, alle Bücher, das komplette Geschirr. Man tut sich übrigens selbst einen grossen Gefallen, wenn man immer erst eine abschliesst, bevor man mit der nächsten beginnt.

Woman is packing things of her dead husband

Was macht man mit dem, was zu gut ist zum Wegwerfen?

Enkel den Onlineverkauf via Kleinanzeigen übernehmen lassen. Im Bekanntenkreis erzählen, dass man gerade ausmistet. Oder halt doch auf den Recyclinghof bringen – das ist oft das Schwierigste.

Wie sicher auch der Umgang mit Fotos und Tagebüchern…

Klar, bei solchen persönlichen Dingen wird uns am schmerzlichsten bewusst, dass das, was uns lieb und teuer ist, durch unseren Tod auf einen Schlag entwertet wird. Die meisten Fotos landen über kurz oder lang auf dem Müll – niemand kennt mehr die Personen. Deswegen vielleicht schon zu Lebzeiten eine Auswahl treffen – Klasse statt Masse.

Manche Angehörige gehen der Einfachheit halber den «alten Kram» selbst durch und entsorgen Dinge, weil sie die Eltern nicht mit dem Prozess belasten wollen.

Das halte ich für total unangemessen – es ist ja immer noch der Besitz einer anderen Person. Sollte man sich als Sohn oder Tochter Sorgen machen über die zu umfangreiche Habe der Eltern, darf man das auch ansprechen, selbst wenn es unangenehm ist. Man kann sagen, dass man Angst hat vor dieser Art Nachlass.

Was ist Ihnen bei dem Thema am wichtigsten?

Wir sollten es bewusst als Anlass nutzen, um Dinge zu besprechen und Zeit miteinander zu verbringen. Das ist das wirklich Kostbare, der Rest ist nur Kram. Die Auseinandersetzung mit unserem Besitz ist immer eine Auseinandersetzung mit uns selbst – es geht um Werte, Überzeugungen, Lebensabschnitte, Menschen, die uns begleitet haben, Ziele und Träume, die man hatte und jetzt noch hat. Es ist auch eine Auseinandersetzung mit dem Leben, das man noch leben möchte. Die gesammelten Erfahrungen mit seinen Lieben zu teilen, schafft Verbindung. Die hält später auch die Erinnerung am Leben. Nicht das Schmuckkästchen oder die Vase.

Dieser Artikel erschien erstmals am 30. September 2024, wir publizieren ihn hier nochmals in einer aktualisierten Version.