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Stadt-Land-Graben
«Geh zurück zu deiner Gülle», schreiben Städter über den Bundesrats-Kandidaten

Markus Ritter, Bio-Bauer und Bundesratskandidat, auf seinem Hof in Altstätten.
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In Kürze:
  • Bundesratskandidat Markus Ritter wird grob beschimpft.
  • Der Stadt-Land-Graben wird grösser.
  • Die urbane Bevölkerung fühlt sich zunehmend unverstanden.
  • Bauern ärgern sich über die Vorurteile ihnen gegenüber.

Und wieder zeigt sich der Stadt-Land-Graben in seiner ganzen Tiefe. «Geh zurück zu deiner Gülle», lautete ein Kommentar zu einem Interview mit Bauernpräsident Markus Ritter, der letzte Woche seine Bundesratskandidatur ankündigte. Andere nannten ihn Erpresser der Subventionslobby oder unterstellten ihm Profitgier. Es hiess, die Bauern seien schuld am «pestizidverseuchten Gemüse und Grundwasser» und verunglimpften und schröpften die Stadtbevölkerung. Für die letzte Bemerkung gab es unter allen Kommentaren mit Abstand am meisten hochgereckte Daumen. 

Der Ton in der Politik ist schärfer geworden, Grobheiten gehören heute zum Alltag. Aber wenn Ritter als Bundesrat ungeeignet sein soll, weil «mit dem Kopf denken und arbeiten eben anspruchsvoller ist, als Gülle auszuführen» – so ein weiterer Kommentar –, dann hat das eine andere Qualität. Dann zeigt sich einmal mehr, wie gross das Unverständnis zwischen der bäuerlichen und der urbanen Schweiz ist. Und wie ungeniert der Häme und der Geringschätzung mitunter freien Lauf gelassen wird. Ob links gegen rechts, Männer gegen Frauen oder Jung gegen Alt: Kein Konflikt wird in der Schweiz so unerbittlich ausgetragen wie jener zwischen Städtern und Bauern. 

Das ist umso erstaunlicher, weil es noch nicht lange her ist, als fast die ganze Schweiz bäuerlich war. Es gibt kaum jemanden, dessen Vorfahren einst nicht in der Landwirtschaft tätig waren. Auch jene, die sich heute urban nennen, sind meist nicht in der Stadt aufgewachsen, sondern aus der Agglo oder der Provinz zugezogen. Warum also dieser Dünkel? 

Vier Juristen im Bundesrat sind kein Problem

Das fragt sich auch Jörg Büchi. Er bauert im zürcherischen Elgg und dokumentiert auf Instagram unter «Milchbauernhof» seinen Alltag als Landwirt, äussert sich dort aber auch zu politischen Themen. Kürzlich postete der studierte Agronom ein Foto des Bundesrats aus dem Jahr 2004 und warf die Frage auf, weshalb sich nie jemand daran gestört habe, dass damals mit den Herren Leuenberger, Schmid, Couchepin und Blocher mehr als die Hälfte der Regierung aus Juristen bestand. 

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Büchi gibt die Antwort gleich selbst: «Das Vorurteil hält sich hartnäckig, Landwirte seien konservative, jammernde und erfolglose Männer, deren Leben aussieht wie zu Zeiten von ‹Ueli, dem Knecht›.» Zu den Klischees komme das Unwissen: «Viele Menschen sind weit weg von der Landwirtschaft und sehen die Zusammenhänge nicht.» Geradezu bezeichnend findet Büchi deshalb den Gülle-Kommentar: «Markus Ritter ist Biobauer – Biobetriebe düngen mit Hofdüngern, also zum grossen Teil mit Gülle.» Wer etwas gegen Gülle habe, müsste strikt auf Bioprodukte verzichten, erklärt der 29-Jährige. 

Zwei Drittel der Bevölkerung spüren einen Stadt-Land-Graben

Der Stadt-Land-Graben ist nicht neu – und er ist auch kein Schweizer Phänomen. Es gibt ihn, seit sich die Städte industrialisierten und sich deren Bewohner plötzlich als modern verstanden. Die ländlichen Gebiete galten fortan als ein «traditionelles Paralleluniversum», wie der bekannte Soziologe Andreas Reckwitz während der deutschen Bauernproteste Anfang des letzten Jahres erklärte. Damals im 19. Jahrhundert, sagte Reckwitz, etablierten sich die «gegenseitigen kritischen Zuschreibungen», die heute wieder aktuell seien. Dabei waren die Unterschiede einst nahezu verschwunden. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts war der Wohlstand immer gleichmässiger verteilt, die neue Mittelstandsgesellschaft laut Reckwitz «städtisch und ländlich zugleich». 

Seit etwa 15 Jahren aber geht in allen westlichen Ländern der Stadt-Land-Graben wieder auf, was auch mit dem Niedergang der traditionellen Volksparteien zu tun hat, die beide Lager miteinander verbunden hatten. Dass sich die beiden Regionen zunehmend voneinander entfernen, finden auch zwei Drittel der Befragten einer Studie des Politikwissenschaftlers Michael Hermann aus dem Jahr 2023. Gemäss Hermann hat das mit dem politischen Profil der Städte zu tun, das sich «von der Mehrheitsmeinung wegbewegt hat». Heisst: Die Städte sind linker geworden. Was zur Folge hat, dass sich die urbane Bevölkerung vermehrt unverstanden fühlt, wie Hermann schreibt. 

Ritters Spitze gegen die angeblich verweichlichten Städter

Das wird jeweils nach Abstimmungen spürbar, wenn die Städter einmal mehr das Gefühl haben, von den «Provinzlern» überstimmt worden zu sein. So zum Beispiel 2021 beim CO2-Gesetz, das in der Stadt Zürich auf 72,7 Prozent Zustimmung stiess, aber wegen der Stimmen vom Land mit 51,6 Prozent verworfen wurde. Das gleiche Bild zeigte sich bei der Trinkwasserinitiative im selben Jahr. Umgekehrt mussten sich 2012 die Landkantone von den Städtern die Zweitwohnungsinitiative aufzwingen lassen. Obschon diese Konstellation deutlich seltener sei, herrsche der Eindruck vor, die Städte dominierten, heisst es in der Studie von Michael Hermann.

Und so unterliess es auch Bundesratskandidat Ritter in seinem Interview nicht, seinerseits eine Spitze gegen die angeblich verweichlichten Städter zu platzieren. Er gehe nur zum Arzt, wenn er den Kopf «fast unter dem Arm» tragen müsse, sagte Ritter. Der Mitte-Politiker spannte auch keck den Bogen von seiner Hart-im-Nehmen-Mentalität zu den vielen Absagen aus den eigenen Reihen. Es fehlten, so der Bauernpräsident, «Kandidaturen aus der Stadtschweiz» und Leute, die «diese Arbeitsbelastung wollen». Er sei es gewohnt, fast 365 Tage im Jahr zu arbeiten «wie viele auf dem Land», denn da werde die «Work-Life-Balance anders gelebt».

Fleischkonsum nimmt trotz Vegi-Hype nicht ab

Vielleicht fielen die Reaktionen in den Kommentarspalten deswegen so gereizt aus, weil Ritter einen wunden Punkt traf: Tatsächlich zeigte eine Untersuchung des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums 2020, dass Menschen auf dem Land «deutlich» weniger zum Arzt gehen und weniger hohe Gesundheitskosten verursachen. Dafür arbeiten sie mehr, jedenfalls in der Landwirtschaft: Der Normalarbeitsvertrag im Kanton Zürich zum Beispiel sieht eine Wochenarbeitszeit von 55 Stunden vor – das gilt für alle, auch für die 16-jährigen Bauernlehrlinge. 

Womöglich fühlten sich viele Städter aber auch deshalb provoziert, weil sie selber nicht immer ganz einhalten, was sie propagieren oder an der Urne abstimmen. Zumindest beim Tier- und Naturschutz ist jedenfalls eine gewisse Diskrepanz auszumachen. Denn obschon in einer Befragung des Bundes 44 Prozent der Bevölkerung angaben, «immer oder meistens» Bioprodukte zu kaufen, zeigen die Zahlen ein anderes Bild: Von den «Gesamtausgaben für Nahrungsmittel und Getränke» entfielen 2023 gerade mal 12,3 Prozent auf Bioprodukte, schreibt das Bundesamt für Statistik.  

Sieht man sich die Sache genauer an, wird noch deutlicher, dass wohl häufig die Idee gefällt, deren Umsetzung aber weniger: Die vegane Küche zum Beispiel mag als hip gelten, auf das Kaufverhalten hat sie kaum Einfluss. Der Pro-Kopf-Fleischkonsum ist seit Jahren praktisch unverändert gleich hoch, dem grün-woke-urbanen Hype zum Trotz leisten sich bloss 6,5 Prozent der Bevölkerung Fleisch aus tiergerechter Haltung. Beim Poulet, das sogar noch häufiger gegessen wird als früher, beläuft sich der Bio-Anteil auf winzige 2,7 Prozent. 

Mehr Gemeinsamkeiten, als man denken würde

Allzu grosse Sorgen um den Zusammenhalt des Landes sind dennoch nicht angebracht. Denn gemäss Michael Hermann nimmt die Bevölkerung zwar einen grossen Stadt-Land-Gegensatz wahr. Aber so scharf verläuft die Trennung nicht. Denn nur gerade 18 Prozent zählen sich zum Team «Stadt», 30 Prozent mehr zum Team «Land» – etwas mehr als die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer fühlt sich weder noch. Oder sowohl als auch.

Überhaupt unterschätzen sich die beiden Gruppen womöglich mehr, als sie denken. Eine soeben veröffentlichte Studie von Agroscope und ETH zeigt eine verblüffende Einigkeit von Stadt und Land, wenn es um Agrarpolitik geht. Hatten die Befragten zu entscheiden, ob bei einer landwirtschaftlichen Frage der Naturschutz oder die Finanzen ausschlaggebend sein sollen, erachteten beide Lager das Geld als wichtiger.

Ein «signifikanter Unterschied» zeigt sich allerdings – entgegen dem Klischee – bei Menschen in sehr ländlichen Gegenden. Sie sind nicht etwa für laxere Vorschriften bei Tierwohl und Umweltschutz, im Gegenteil. In der Studie heisst es, sie fänden «die Verbesserung der Biodiversität und die Reduktion des Pflanzenschutzmitteleinsatzes deutlich wichtiger als Befragte aus anderen Regionen».