Mamablog: Umgang mit kindlichen Emotionen«Ist doch nicht so schlimm»
Wie sollen Kinder ein Gespür für ihre Gefühle entwickeln, wenn unsere erste Reaktion auf ihre Tränen und Wut oftmals dieser Satz ist, fragt sich unsere Autorin – und plädiert für eine veränderte Sichtweise.
Ich habe es schon eine Weile beobachtet, das gut zweijährige Mädchen, nennen wir es Lina, mit den grossen Rehaugen. Ganz friedlich hat es sein Bäbi mit einem imaginären Brei gefüttert, den es zuvor laut singend gerührt hatte. «Nei, lug, nöd so», kommentierte ein etwa gleichaltriger Junge, während er ihr das Plastikteil entriss, um es selbst zum Mund der Puppe zu führen. Pures Entsetzen spiegelte sich in Linas Augen wider. «Stop», brüllte sie, und warf sich auf den Boden. Zunächst folgte unerbittliches Schluchzen, danach hämmerte Lina mit ihren zu Fäusten geballten Händchen gegen den Boden und schliesslich gegen ihren eigenen Kopf.
Wut wird stigmatisiert
«Schätzli, isch doch jetzt nöd so schlimm. Lueg, da hine hets no meh Löffel», versuchte Linas Vater sie zu beruhigen, während er mit einem entschuldigenden und leicht beschämten Lächeln den Blick der umherstehenden Eltern suchte. Lina wurde noch lauter und schlug weiterhin gegen den Boden. «Lina, bitte, sig doch lislig. Tuet mer leid», entschuldigte sich der sichtlich überforderte Vater bei den Anwesenden. «Scho grad chli e heftigi Reaktion», hörte ich eine Mutter kommentieren – und wurde nachdenklich.
Wut hat in unserer Gesellschaft keinen guten Ruf. Sie gilt als eine der sieben Todsünden und soll, wenn irgendwie möglich, unterdrückt werden. Sie zu zeigen bedeutet, dass man sich und seine Gefühle nicht im Griff hat, oder, noch schlimmer, dass man «unedle» Gefühle wie Neid verspürt. Ganz abgesehen davon, dass Wut eine Basisemotion ist, die zum Menschsein dazugehört, ist Lina gerade mal zwei Jahre alt. Sie ist in dem Alter, das man nicht umsonst als «Terrible Twos» und «Autonomiephase» kennt. Wo sind wir gelandet, wenn kleine Kinder verurteilt werden, weil sie nicht so funktionieren und reagieren, wie wir Erwachsenen es erwarten? War das früher auch schon so? Eltern haben immer weniger Kinder – lasten auf diesen vielleicht gerade deshalb immer höhere Erwartungen?
Von Momguilt und goldenen Wegen
Die Kindheit mag sich verändert haben, die Entwicklungsschritte und -Bedürfnisse der Kinder aber bleiben. Ein angemessener Umgang mit Emotionen ist eine zentrale Kompetenz, die erlernt werden muss. Dass Lina also nicht den Jungen, der ihr den Löffel weggenommen hatte, schlug, sondern ihre Wut am Boden ausliess, ist meines Erachtens sogar lobenswert. Wie sollen sich unsere Kinder altersgemäss entwickeln, wenn ihnen ein kindgerechtes Aufwachsen verwehrt wird? Wie sollen sie ein Gespür für ihre Emotionen entwickeln, wenn unsere erste Reaktion auf deren Tränen ein «Ist doch nicht so schlimm» ist?
Tatsächlich habe ich meiner zweijährigen Tochter eben diese Reaktion entgegengebracht, als sie vor ein paar Wochen etwa dreissig Minuten lang tobte, da sie die gleichen Schuhe wie ihr imaginärer Freund, das Nilpferd, haben wollte. Vielleicht lag es daran, dass meine Zündschnur an jenem Tag besonders kurz war, aber ich habe der Kleinen tatsächlich – in einer ziemlichen Lautstärke – gesagt, dass es die Schuhe doch nicht mal gebe. Ja, ich weiss, hallo «Momguilt».
Auch ich gehe auf kindliche Wut nicht immer so ein, wie es wohl aus pädagogischer Sicht richtig wäre. Und wenn ich meinen Kindern vormache, immer «korrekt» zu reagieren, erschwere ich es ihnen vermutlich, einen gesunden Umgang mit den eigenen Emotionen zu finden. Der goldene Weg liegt, so denke ich, wie so oft irgendwo dazwischen. Ein auf Entwicklungsschritte abgestimmter Umgang muss und soll nicht bedeuten, dass man als Elternteil stillschweigend jedes Verhalten hinnimmt. Eine veränderte Sichtweise wäre allerdings ein sinnvoller erster Schritt.
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