Mamablog: Integration versus SeparationVon einem inklusiven Schulsystem sind wir weit entfernt
Unter den aktuellen Bedingungen kann inklusive Bildung an den meisten Schulen nicht gelingen. Warum es aber falsch ist, zu veralteten Lösungen zu greifen.
Seit dem Jahr 2011 verfolgt die Schweiz an den Schulen einen integrativen Ansatz – seither wird darüber immer wieder sehr emotional diskutiert und politisiert. Soeben haben die GLP und die FDP in Zürich eine Initiative für die Rückkehr zum Kleinklassen-Modell lanciert. Auch in Basel laufen Bemühungen gegen die Integration und für die sogenannten Separation. Eine Lehrerin aus Basel schlug wegen Überforderung in den Medien Alarm, es folgten weitere Beiträge über Lehrpersonen am Anschlag. Und in der «SonntagsZeitung» erschien kürzlich ein Artikel über einen angeblichen Abklärungswahn an der Schule.
Als Mutter von zwei Kindern, von denen eines eine kognitive Behinderung und das andere eine ADHS hat, kenne ich die Diskussionen und Schwierigkeiten nur zu gut. Auch wenn ich die Herausforderungen, denen Lehrpersonen gegenüberstehen, gut nachvollziehen kann, ist es in meinen Augen falsch, die Klagen der Lehrkräfte einzig auf dem Rücken von Kindern mit kognitiven und körperlichen Behinderungen, Lernstörungen und Verhaltensproblemen sowie deren Familien auszugetragen. Die Idee, Kinder zu separieren und sie damit für ihre gesamte schulische Laufbahn einzuschränken, anstatt die Gründe für die Hilferufe zu analysieren und nach Lösungen zu suchen, entspricht nicht meinen Vorstellungen einer chancengerechten Gesellschaft.
Einfache Lösungen gibt es nicht
Dabei frage ich mich: Sind es wirklich immer die Kinder mit diagnostizierten Verhaltensstörungen, die den Unterricht stören? Sind es immer die Eltern der Kinder mit geistigen Behinderungen oder Lernstörungen, die nicht kooperieren? Machen die Lehrpersonen, die nach Hilfe rufen, per se immer alles richtig? Und warum erhalten Schulen eigentlich nicht die erforderlichen Ressourcen, um erfolgreiche Integration zu gewährleisten? Es gibt genügend Beispiele aus anderen Ländern.
Anstatt diesen Fragen auf den Grund zu gehen, lesen wir weiter empörte Headlines: «Pädagogen schlagen Alarm» wegen Entwicklungsverzögerungen und Windeln im Kindergarten. Es folgen Geschichten über hyperaktive und impulsive Kinder mit Aggressionsproblemen, Sprachentwicklungs- und Entwicklungsstörungen, die das System belasten. Einige Journalistinnen und Journalisten, zitierte Lehrpersonen und bestimmte Parteien sind sehr oft einer Meinung: Die Schuld am Leid der Schulen wird den Eltern, der Erziehung, der Antiautorität und vielleicht sogar den Kindern selbst zugeschrieben. Die wahren Opfer sind jedoch die sogenannten Regelkinder, die gesunden, diejenigen, die das Gymnasium anstreben, und die Lehrpersonen, die sich nur noch den auffälligen Kindern widmen müssen. Die vorgeschlagene Lösung: Kleinklassen.
Verhaltensauffällige Kinder sind genauso individuell wie ihre Lebensgeschichten. Ihre Charaktere, Entwicklungen, Erziehungen, Eltern, kulturellen Hintergründe und möglicherweise auch Behinderungen variieren stark. Daher existieren keine einfachen Lösungen oder eindeutigen Antworten. Leider wird diese Tatsache oft übersehen. Ebenso wenig wird berücksichtigt, dass die Schweiz der Salamanca-Erklärung und der Behindertenrechtskonvention (BRK) zugestimmt hat und die Integration in unserer Verfassung fest verankert ist – wir haben tatsächlich eine rechtliche Grundlage für Inklusion.
«Wir müssen in den Schulen lernen, dass nicht alle Schülerinnen und Schüler alles zur gleichen Zeit machen müssen.»
Dennoch sind wir von einem inklusiven Schulsystem noch weit entfernt. «Kinder und Jugendliche mit geistigen Behinderungen werden in der Regel nach wie vor einer Sonderschule zugewiesen. Zudem werden auf allen Bildungsstufen Massnahmen des Nachteilsausgleichs oder die nötige Assistenz oft verweigert», hält Inclusion Handicap, der Dachverband der Behindertenorganisationen, auf seiner Website fest. Der Verband fordert daher eine grundlegende Veränderung in der Bildungspolitik. Die Inklusion von Menschen mit Behinderungen und die Bereitstellung der hierfür notwendigen Mittel müsse selbstverständlich werden, sagen sie – und damit auch eine ausreichende Finanzierung der entsprechenden Ausbildung des Lehrpersonals. Warum also nicht darüber diskutieren, anstatt zu veralteten Lösungen zu greifen, bei denen «andersartige» Menschen separiert werden?
Es braucht grundlegende Veränderungen
In einem Punkt stimme ich jedoch mit den Befürwortern der Kleinklassen und den Berichten über auffällige Kinder überein: In vielen Schulen kann es unter den aktuellen Bedingungen nicht funktionieren. Auch deshalb besucht meine Tochter bislang eine heilpädagogische Schule, obwohl ich mir eine inklusive Schulumgebung für alle wünschte, in der sie im Quartier zur Schule gehen könnte. Die Klassen sind zu gross, Kinder mit Entwicklungs-, Sprachstörungen, psychischen Krankheiten oder Verhaltensstörungen erhalten nur begrenzte Unterstützung. Und die Haltung zur Integration ist von Schulhaus zu Schulhaus trotz klarer Gesetzgebung unterschiedlich, gar abweisend. Inclusion Handicap zieht das Fazit: «Es fehlt an Wissen und oft auch an einer positiven Haltung gegenüber Inklusion. Der finanzielle Druck auf das Gemeinwesen verschärft die Situation zusätzlich.»
Die Schulentwicklerin Rahel Tschopp hat sehr klare Lösungsansätze für eine «Schule für alle»: «Wir müssen in den Schulen lernen, dass nicht alle Schülerinnen und Schüler alles zur gleichen Zeit machen müssen. Es sollte normal sein, dass jedes Kind individuell ist», schreibt sie auf Anfrage per Mail. Sie ist der Meinung, dass die Schule eine grundlegende Veränderung durchmachen muss, damit Integration gelingen kann: «Wie wäre es, wenn alle Lehrerinnen des gleichen Stockwerks zum Beispiel die Mathematik gemeinsam vorbereiten, so dass die Schülerinnen und Schüler mit selbsterklärenden Materialien im eigenen Tempo lernen können? Die Mathematikstunden dieser Klassen finden immer gleichzeitig statt, und alle Türen stehen offen. Die Lehrkräfte sowie die Klassenassistenzen, Zivildienstleistenden oder Heilpädagoginnen stehen unterstützend zur Verfügung für diejenigen Kinder, die zusätzliche Unterstützung benötigen. Dadurch bewegen sich die Kinder automatisch viel mehr, und die Vielfalt wird zum Alltag. Das hochbegabte Kind wird nicht ausgebremst, und das Kind mit speziellen Herausforderungen darf sich die nötige Zeit nehmen.»
Die Schuld den Eltern zuzuschieben und Kinder mit Auffälligkeiten zu separieren, ist hingegen keine Lösung, obwohl Befürworterinnen und Befürworter das Gegenteil behaupten. Mehrere Studien belegen nämlich, dass Kleinklassen nur kurzfristige Erleichterung bringen. Integrative Bildungsformen bieten den betroffenen Schülerinnen und Schülern langfristig mehr Vorteile – und letztendlich auch unserer Gesellschaft.
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