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Mamablog: Interview zu Inklusion
«Eltern haben häufig Angst vor gesellschaftlicher Ausgrenzung»

Die Hoffnung auf Inklusion: Noch überwiegen die Vorurteile gegenüber Behinderungen – und belasten die betroffenen Familien.
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54’000 Kinder leben in der Schweiz mit einer Behinderung oder chronischen Krankheit, die meisten von ihnen wachsen bei ihren Eltern oder Angehörigen in Privathaushalten auf. Das birgt für die betroffenen Familien oft grosse Herausforderungen und nicht selten auch Konflikte mit Behörden, Institutionen oder in der Nachbarschaft. Die Projektleiterin und Mediatorin Kerstin Mitzschke spricht im Interview über ihre eigenen Erfahrungen als Mutter eines Kindes mit chronischer Erkrankung und darüber, was es braucht, damit Konflikte unter den Beteiligten abnehmen.

Kerstin Mitzschke, Sie beraten schon sehr lange Eltern von Kindern mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen. Was beschäftigt diese Eltern?

Für viele Eltern ist die Diagnose der Krankheit oder der Behinderung ihres Kindes erst einmal ein Schock. Viele Fragen drehen sich als erstes um die Bewältigung des Traumas und des Alltags. Und dann geht es auch darum, Fachexpertinnen und -experten für das Kind zu finden. 

Also Ärztinnen oder Ärzte?

Nicht nur. Auch geeignete Therapeutinnen und Therapeuten, Assistenzhilfen zur Entlastung oder einen Platz in einer integrativen Einrichtung. Doch das alles ist schwierig zu finden und es gibt teils lange Wartezeiten. Es fehlt zum Beispiel gerade im entwicklungspädiatrischen oder psychiatrischen Bereich an Therapieplätzen. Eltern bewegen auch Fragen zu integrativen Kindergärten oder heilpädagogischen Schulen, die Finanzierung von Hilfsmitteln oder Konflikte in der Nachbarschaft. 

Was für Konflikte sind das?

Ich betreute zum Beispiel eine Familie, die mit einem Kind mit Mehrfachbehinderung in einem Nachbarschaftskonflikt steckte. Es kamen Klagen der Nachbarn wegen den Lauten des Kindes während der Nacht. Als Mediatorin versuche ich, mit beiden Parteien gegenseitiges Verständnis füreinander zu entwickeln. Es geht um Empathie und einen Perspektivenwechsel. Wie fühlt es sich an für die Eltern des Kindes mit Behinderung? Wie fühlt sich die Nachbarin, die nicht mehr schlafen kann? Jede Konfliktpartei will in seinem Bedürfnis gesehen werden. Was können für beide Parteien akzeptable Kompromisse sein?

Wer bezahlt eine Mediation?

Oft werden Mediationen auf Empfehlung eines Familiengerichts aufgegleist. Dann werden die Kosten zwischen den Parteien aufgeteilt oder die Rechtsschutzversicherung übernimmt teilweise die Kosten.

Haben Konflikte zugenommen? 

Ich führe keine Studien durch. Nach meinem Empfinden haben Konflikte jedoch zugenommen und die Anspannung ist vor allem bei vielen Menschen mit Beeinträchtigungen und/oder Eltern von Kindern mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen hoch. Ich führe das einerseits auf die zunehmende Alltagsbelastung und Komplexität in Verbindung mit dem Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und Menschen mit zunehmend unterschiedlichsten Bedürfnissen zurück. 

«Die Familien wollen alle ein möglichst ‹normales› Leben führen.»

Sie haben selbst eine Tochter mit einer chronischen Krankheit, beeinflusst Sie das in Ihrer Arbeit?

Meine Tochter lebt mit einer bipolaren Störung vor dem Hintergrund von Psychiatrieerfahrung. Ich weiss, was Eltern durchleben, welche Ängste sie aushalten müssen, wenn das Kind krank ist, oder es zu Konflikten kommt mit Behörden, Institutionen oder auch im privaten Umfeld. Durch meine Tätigkeit versuche ich, meine Erfahrung weiterzugeben und betroffenen Menschen oder Eltern diejenige Hilfe anzubieten, die ich selbst gebraucht hätte. Gerade auch bei psychisch erkrankten Kindern sind die Schamgefühle der Eltern eine grosse Barriere. Sie trauen sich nicht, ihre Situation offen anzusprechen.

Warum sind die Schamgefühle so gross?

Eltern oder Angehörige haben häufig Angst vor gesellschaftlicher Ausgrenzung, so wie die Betroffenen selbst auch. Die Familien wollen alle ein möglichst «normales» Leben führen. Sie spüren jedoch oft Widerstände und Vorurteile in der Gesellschaft. Es fehlt noch immer sehr an gesellschaftlichen Kompetenzen, wie der Umgang mit Menschen mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen besser gelingen kann, sie inkludiert oder gleichwertig und wertschätzend behandelt werden.

Was braucht es für eine gelingende Inklusion?

Es braucht Begegnung und gemeinsame Erlebnisse. So lernen wir: Wie gehe ich auf Menschen zu, die eine Einschränkung oder Behinderung haben? Menschen brauchen Mitgefühl, statt Mitleid, sie brauchen liebevolle und aufrichtige Begegnung und Freundschaften, Teilhabe am Arbeitsleben und gesellschaftliche Anerkennung. Wir wollen alle als Menschen und in unseren Fähigkeiten gesehen und ernst genommen werden und nicht auf unsere Schwächen oder Einschränkungen reduziert werden. Im Anderssein, dem individuellen Persönlichkeitsmerkmal Stärken erkennen und Potenzialentfaltung ermöglichen, das ist ein guter Weg.

Was hätten Sie sich als Mutter eines Kindes mit einer chronischen Krankheit gewünscht?

Als Angehörige mehr Einbezug und Austausch mit den Ärztinnen und Ärzten. Ich fühlte mich oft aussen vorgelassen und musste relevante Informationen wie Therapievarianten oder Wirkungsweisen von Medikamenten erfragen. Aus der Forschung ist bekannt, dass der Einbezug der Eltern sehr wichtig für die Genesung und Therapie der Kinder und Jugendlichen ist. Das Widersprüchliche dabei ist, dass die häusliche Pflege selbstverständlich bei Eltern und Betreuungspersonen liegt, als erfahrene Fachexperten werden sie aber zu wenig ernst genommen. Deshalb ist es von grosser Bedeutung, Vereine wie VASK Schweiz (Verein für Angehörige von Menschen mit Psychiatrieerfahrung, Anm. der Redaktion) zu fördern, die sich für «Open Dialogue», den Einbezug durch Dialog, ein Konzept für die gemeindepsychiatrische Begleitung von Menschen und deren Angehörigen in psychiatrischen Krisensituationen, einsetzen.

Was halten Sie von Institutionen, zum Beispiel für Jugendliche mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen?

Es ist sehr wichtig, dass Kinder sich von ihren Eltern ablösen dürfen und die Wohngruppen sowohl die betroffenen Jugendlichen wie auch die Eltern in Gespräche miteinbeziehen und deren Bedürfnisse respektieren. Es gibt sehr viele Themen, die in Institutionen Priorität haben, zum Beispiel der Umgang mit verfügbaren Fachkräfteressourcen und eine Gesetzesänderung zur Heimfinanzierung, dazu fordern mehr Menschen mit Einschränkungen ihre Rechte ein. Veränderungen lösen bisweilen auch Ängste aus. Institutionen möchten daher eher in alten Strukturen arbeiten, als Risiken durch Veränderungen einzugehen. Sich Veränderungsprozessen zu stellen, ist in jeder Hinsicht unausweichlich. Durch Mediation werden Beziehungen gestärkt und durch die Auflösung von Konflikten positive Energie gewonnen.  

Was braucht es Ihrer Meinung nach von der Gesellschaft und Politik für Familien von Kindern mit chronischen Krankheiten und/oder Behinderungen?

Es braucht den «Open Dialogue» mit den Betroffenen und Angehörigen und das Vertrauen in die Kompetenzen dieser Experten aus Erfahrung. Respekt für alle Beteiligten – hin zu einem liebevollen Umgang, weg von verletzender Ausgrenzung.