Immer mehr Kinder «abgeklärt»«Nicht alle sind gleich ein Therapiefall»
Bei den schulpsychologischen Diensten gibt es Wartelisten bis zu einem halben Jahr. Die Zahl der überwiesenen Fälle nimmt laufend zu. Landet irgendwann jedes Kind auf der Couch?

Wenn der Primarschüler wieder einen dieser Tage hat, kaspert er herum wie Alt-Bundesrat Ueli Maurer: «Kä Luscht», sagt er dann. Und läuft mitten im Unterricht aus dem Klassenzimmer. Nach der Pause hält der Lehrer vergeblich nach ihm Ausschau. Der kleine Rebell sitzt nicht an seinem Pult, sondern irgendwo auf dem Schulhof.
Das Kind ist verträumt, unaufmerksam. Der Lehrer tadelt: So gehe das nicht weiter. Es gebe an der Schule Regeln, die für alle gälten. Der Junge störe den Unterricht. Die Eltern werden eingeschaltet, sind selber ratlos, fragen sich, was mit ihrem Sohn los ist. Der Bub wird beim Schulpsychologen angemeldet, mit dem Einverständnis von Mutter und Vater. Das war im Frühsommer. Den Termin hat die Familie erst im Dezember. Denn es herrscht Andrang beim schulpsychologischen Dienst in der Schulgemeinde des Kindes.
Und das nicht nur dort. Im Kanton Zürich gibt es bei vielen schulpsychologischen Diensten Wartelisten. In der Regel bis zu zwei Monaten. Aber 10 bis 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler, so eine Schätzung, müssen länger warten, je nach Dringlichkeit. In Einzelfällen bis zu einem halben Jahr.
Grund sei die hohe Nachfrage, sagt ein Zürcher Schulpsychologe in leitender Stellung, der nicht namentlich zitiert werden möchte. In den letzten Jahren verzeichne man «eine Zunahme von Anmeldungen». Je nach Gemeinde müssen demnach jährlich sechs bis acht Prozent der Schülerinnen und Schüler beim Schulpsychologen antraben. Bei 160’000 Zürcher Volksschülern macht das 9600 bis 12’800 Kinder pro Jahr.
«Im sonderpädagogischen Bereich wurde eine gigantische Bürokratie aufgebaut.»
Im Kanton Aargau gibt es Wartefristen von bis zu vier Monaten. Auch hier meldet das Bildungsdepartement «eine steigende Nachfrage». Im Kanton Bern schnellte die Zahl der Anmeldungen für die Erziehungsberatung – so heissen hier die schulpsychologischen Dienste – in den letzten drei Jahren um 40 Prozent auf 12’900 nach oben. Das habe unter anderem mit der Einführung des «Standardisierten Abklärungsverfahrens» (SAV) zu tun, das bei der Bewilligung von verstärkten sonderpädagogischen Fördermassnahmen zum Einsatz komme.
Entwickelt hat das Behördenungetüm SAV die Eidgenössische Erziehungsdirektorenkonferenz. Wer nachliest, wozu das nützen soll, dem wird schwindlig. Das Prozedere diene den «Entscheidungsinstanzen als Verordnung von verstärkten sonderpädagogischen Massnahmen» und komme zur Anwendung, wenn die «nicht verstärkten sonderpädagogischen Ressourcen nicht genügen». Den «Anwendern» ermögliche das Tool eine «mehrdimensionale Bedarfsabklärung» und eine «systematische Erfassung von Informationen».
«Im sonderpädagogischen Bereich wurde eine gigantische Bürokratie aufgebaut», sagt Philipp Ramming, einer der führenden Kinder- und Jugendpsychologen der Schweiz und ehemaliger Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychologie. Veranlasst hätten das die Verwaltungsbehörden in den Schuldepartementen. «In der Zeit, in der man früher ein Kind behandeln konnte, kann man heute noch ein halbes Kind behandeln», so Ramming, «der Rest der Zeit wird von Formularen, Berichten, Zeiterfassungen und administrativen Absicherungsritualen aufgefressen.»
«Es besteht die Gefahr, dass vergessen wird, dass es normal ist, wenn sich Kinder doof benehmen.»
Eine Erfahrung, die Psychologe Allan Guggenbühl kennt: «50 bis 60 Prozent der Arbeitszeit braucht man in der Schulpsychologie, um Berichte zu schreiben. Das ist absurd und Ausdruck unseres Strebens, alles kontrollieren zu wollen.» Oft werde auf Probleme mit einer «Abklärung» reagiert statt mit einem Gespräch, sagt Guggenbühl. Die Schulen würden durch unzählige Fachpersonen unterstützt, deren Einsatz wiederum durch unzählige formale Kriterien erschwert werde. «Es besteht die Gefahr, dass vergessen wird, dass es normal ist, wenn sich Kinder doof benehmen. Nicht alle sind gleich ein Therapiefall.»
Es gibt inzwischen Oberstufenklassen, in denen praktisch kein Jugendlicher sitzt, der im Laufe seiner Schulkarriere nicht mindestens ein Mal beim Schulpsychologen antraben musste und «abgeklärt» wurde. Wer ist hier eigentlich krank: die Schüler oder die Gesellschaft?

In vielen Kantonen wird das Personal in den schulpsychologischen Diensten hochgefahren, um die Zahl der Anmeldungen zu bewältigen: 800 Schulpsychologinnen und -psychologen sind aktuell in der Schweiz tätig. Und das, sagt Basil Eckert, sei immer noch viel zu wenig. Eckert ist Vorstandsmitglied bei Schulpsychologie Schweiz und Co-Leiter des Schulpsychologischen Dienstes Basel-Stadt.
In seinem Kanton sind die Anmeldungen seit 2015 um rund 50 Prozent in die Höhe geschnellt. Nicht nur, weil es mehr Schüler gibt. «Wir stellen nicht nur bei uns fest, dass die Anmeldungen beim Schulpsychologen stärker steigen als die Schülerzahlen», sagt Eckert. «Die Schulen kommen an die Grenzen der Belastbarkeit.»
Die Gründe sind vielfältig
Die Gründe: hoher Leistungsdruck, die Integration von Schülerinnen und Schülern mit Verhaltensauffälligkeiten, Lernschwierigkeiten und Mehrfachbehinderungen, hilflose Lehrpersonen und überforderte Eltern. «Es werden immer mehr Erziehungsaufgaben an die Schulen delegiert», sagt Sekundarlehrer Dani Kachel, Präsident des Oberstufenverbands SekZH. «Die Ansprüche an die Schule sind gestiegen, und die individuellen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler werden stärker gewichtet.» Um dem allen gerecht zu werden, brauche es heute Heilpädagoginnen, Schulsozialarbeiter und Klassenassistenzen. «Ich kann das als Klassenlehrer gar nicht mehr alles allein machen», sagt Kachel.
Erst kürzlich sassen sie in seiner Schule zu viert an einem Tisch. Der Schulleiter, ein Schulsozialarbeiter, ein Schulpsychologe und Lehrer Kachel. Traktandum: Was machen wir bloss mit diesem schwierigen Schüler?
Sekundarlehrer Christoph Ziegler aus Elgg ZH macht ähnliche Erfahrungen. «Schule und Eltern fordern immer öfter eine Abklärung beim schulpsychologischen Dienst», sagt er. Gerade jüngere Lehrpersonen seien zum Teil verunsichert, hätten Angst, etwas falsch zu machen. Bei manchen Eltern gebe es eine «geringe Frustrationstoleranz», wenn ein Kind weniger schnell lesen oder rechnen lerne. «Da rennen dann gleich alle los – und rufen nach einer Therapie.»
Jetzt wird die Politik in Basel und Zürich aktiv, um die Schulen zu entlasten: Gefordert wird die Rückkehr zum Kleinklassenmodell. «Die Lehrpersonen sind am Anschlag», sagt die Zürcher FDP-Gemeinderätin und Schulleiterin Yasmine Bourgeois, die eine entsprechende Volksinitiative mitinitiiert hat. «Sie können nicht auf alle speziellen Bedürfnisse eingehen.»
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