Leitentscheid des Bundesgerichts«Ich habe immer nur verloren» – aber jetzt hat ein Opfer von Zwangsadoption einen bedeutenden Sieg errungen
Ueli Gerber hat sich durch alle Instanzen gegen eine behördliche Verfügung gewehrt – mit Erfolg: Auch Opfer von Zwangsadoptionen haben Anspruch auf eine Solidaritätszahlung.
Ueli Gerber (Name geändert) kennt seine Eltern nicht. Eine Spur findet sich in einem Bericht einer Vormundschaftsbehörde vom 12. Dezember 1967. Gemäss diesem Dokument verzichtet die Mutter zehn Monate nach der Geburt ihres Sohnes auf die Elternschaft. Das Kind wird in einer kirchlichen Hilfsorganisation untergebracht, bevor es im Sommer 1969 zu einer Bauernfamilie kommt. Die Familie, die keine weiteren Kinder hat, adoptiert den Jungen.
Es ist unbestritten, dass Ueli Gerber auf dem Bauernhof schon im Vorschulalter hart arbeiten muss und während der gesamten Jugend schwere körperliche Gewalt erlebt. Er wird regelmässig mit dem Lederriemen geschlagen. Im Alter von zehn Jahren verbringt er wegen einer Gehirnerschütterung längere Zeit im Kinderspital.
«Oft dachte ich, warum bin ich überhaupt auf dieser Erde.»
«Klar hat es Schläge gegeben, man musste halt einfach gehorchen», sagt Ueli Gerber heute. Noch mehr als unter den Schlägen scheint er rückblickend aber unter der fehlenden Freizeit gelitten zu haben. Er durfte nicht in den Turnverein gehen. Weitere gesellschaftliche Aktivitäten blieben ihm verwehrt.
Als er ein Musikinstrument spielen wollte, hiess es: «Dumme Seich, du musst bauern, da bleibt keine Zeit für Musik.» Die Eltern waren sehr stur, wie Gerber sich erinnert. «Oft dachte ich, warum bin ich überhaupt auf dieser Erde.» Doch er liebt die Natur und findet Freude an der landwirtschaftlichen Arbeit – «ich habe nichts anderes gelernt». Er musste eine Landwirtschaftsschule absolvieren.
Bundesamt für Justiz lehnt Entschädigung ab
Bis 1981 waren in der Schweiz Zehntausende Kinder und Erwachsene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen betroffen. Das Parlament hat eine gesetzliche Grundlage geschaffen, um dieses dunkle Kapitel aufzuarbeiten und den Betroffenen eine Wiedergutmachung zu leisten. Das Gesetz ist Anfang 2017 in Kraft getreten.
Für die Opfer solcher Zwangsmassnahmen sieht das Gesetz eine Solidaritätszahlung von einmalig 25’000 Franken vor. Betroffene – dazu zählen unter anderem Verdingkinder, zwangssterilisierte Frauen oder administrativ versorgte Personen – können ihren Anspruch mit einem Gesuch beim Bundesamt für Justiz geltend machen.
Weil Ueli Gerber erst nach der Adoption unter der schweren Kindheit litt, sei nicht von einer Fremdplatzierung auszugehen.
Das Gesuch von Ueli Gerber lehnt das Bundesamt für Justiz jedoch ab. Das Bundesamt bestreitet nicht, dass eine Zwangsadoption vorliegt und Gerber in seiner Jugend vieles erdulden musste. Doch es kommt zum Schluss, dass nur die Mutter Anspruch auf eine Solidaritätszahlung habe. Denn Ueli Gerber litt erst nach der Adoption unter der schweren Kindheit. Da er bereits zur Adoptivfamilie gehört habe, sei nicht mehr von einer Fremdplatzierung auszugehen, argumentiert das Bundesamt für Justiz. Damit fehle die Voraussetzung für eine Solidaritätszahlung.
Im eingangs erwähnten Dokument der Vormundschaftsbehörde ist zwar nicht von Zwang die Rede. Doch wie aus dem Schlussbericht der Unabhängigen Expertenkommission (UEK) für administrative Versorgungen von 1930 bis 1981 hervorgeht, war ein solches Vorgehen üblich. Auf alleinstehende und mittellose Mütter übten Behörden wiederholt erheblichen Druck aus, damit diese ihr Kind zur Adoption freigeben. Deshalb ist in solchen Fällen von Zwangsadoption die Rede.
In einem Fall ist die Expertenkommission etwa auf eine Korrespondenz aus dem Jahr 1942 gestossen, die erahnen lässt, dass der Verzicht auf die Elternschaft wenig mit Freiwilligkeit zu tun hatte. In diesem Beispiel, das nichts mit der Geschichte von Ueli Gerber zu tun hat, schrieb ein Anstaltsdirektor an einen Geistlichen: «Es war nicht ganz einfach, von der Obengenannten den Verzicht auf ihre Rechte an ihrem Kind zu bekommen.»
Ueli Gerber hat sich nie darum bemüht, seine leiblichen Eltern ausfindig zu machen oder kennen zu lernen. «Irgendwann sagte das Mueti mal zu mir, ich sei dann adoptiert», erzählt er. Mit «Mueti» meint er seine Adoptivmutter. Recherchen seines Anwalts David Furger zeigen, dass die leibliche Mutter eine geschiedene Frau war.
Vorurteile gegenüber geschiedenen Frauen
Es ist davon auszugehen, dass sie den neuen Partner und Vater von Ueli Gerber während ein bis zwei Jahren nicht heiraten durfte. Denn gemäss damaligem Familienrecht musste nach der Scheidung eine Wartefrist eingehalten werden. «So war es ihr vermutlich nicht möglich, den Status als Familie im traditionellen Sinn zu legalisieren, was diverse Probleme nach sich ziehen konnte», sagt Furger.
Tatsächlich gab es in der Vergangenheit grosse Vorurteile gegenüber geschiedenen Frauen – insbesondere gegenüber ledigen Müttern. Allein schon die Wohnungssuche konnte für ein Konkubinatspaar zum Spiessrutenlauf werden. So ist davon auszugehen, dass auch Gerbers Mutter erheblichem Druck ausgesetzt war.
Bundesgericht gibt Ueli Gerber recht
Weil das Bundesamt für Justiz die Solidaritätszahlung an Ueli Gerber ablehnt, kommt es zu einem Verfahren. Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet, dass Gerber eine finanzielle Wiedergutmachung zusteht. Als letzte Instanz stützt anschliessend das Bundesgericht diesen Entscheid.
Zentrales Argument der Bundesrichter: Es möge zwar sein, dass eine Familie ein Adoptivkind als ihr eigenes betrachte, doch entscheidend sei hier die Sicht des Kindes, das in eine ihm fremde Familie platziert worden sei. Laut Bundesgericht liegt also auch bei einer Zwangsadoption eine staatliche Fremdplatzierung vor.
Das bedeutet, dass das Bundesamt für Justiz die 25’000 Franken an Gerber auszahlen muss. Das Urteil 2C_393/2022 hat Leitcharakter. Somit haben weitere Personen, die von Zwangsadoption betroffen sind, Anspruch auf die Solidaritätszahlung.
Die Adoptivfamilie akzeptiert
Ueli Gerber bezeichnet seine mittlerweile verstorbenen Adoptiveltern immer noch als Mutter und Vater. Er hat sie trotz allem als Familie akzeptiert. Es waren auch nicht die Adoptiveltern, sondern einzelne Personen aus dem weiteren Familienkreis, die ihm klar zu verstehen gegeben haben, dass er nicht dazugehöre.
«Ich habe immer nur verloren.»
Dennoch fühlt er sich betrogen. Denn bei der Erbschaft ist er auf den Pflichtteil gesetzt worden und hat somit nur den Mindestbetrag erhalten, der ihm gemäss Gesetz zusteht. Dafür macht er allerdings weniger seine Adoptiveltern, sondern mehr deren Verwandtschaft verantwortlich. Er sei «auf gut Deutsch verarscht worden» und wisse nicht, wie er das verdient habe, da er allen Verwandten stets zur Hand gegangen sei, wenn eine Arbeitskraft benötigt worden sei. Heute muss Ueli Gerber mit wenig Geld auskommen.
«Wenn ich mit richtigen Eltern aufgewachsen wäre, hätte ich das wahrscheinlich nicht durchleben müssen – ich habe immer nur verloren», sagt er.
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