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Tom Fletcher im Interview
«Wir müssen auf brutale Weise Prioritäten setzen», sagt der Krisen-Chef der UNO

Tom Fletcher, Chef von Ocha, posiert im Bundesmedienzentrum in Bern für ein Interview, 20.03.2025.
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Er ist so etwas wie der oberste Krisenmanager. Seit rund hundert Tagen ist Tom Fletcher Chef der UNO-Organisation Ocha, die in Notsituationen die Hilfe koordiniert. Ocha steht für «Office for the Coordination of Humanitarian Affairs». Davor war Fletcher Berater von drei britischen Premierministern, Universitätsprofessor, Botschafter und Buchautor. Vergangene Woche hat er in Bern Aussenminister Ignazio Cassis getroffen. Im Gespräch sagt der Brite, was der Rückzug der USA für die humanitäre Hilfe weltweit bedeutet – und welches aus seiner Sicht die wichtigsten «survival skills» sind.

Herr Fletcher, weltweit benötigen über 300 Millionen Menschen humanitäre Hilfe. Nun zieht sich ein wichtiger Akteur zurück: die USA. Hätten Sie das für möglich gehalten?

Nein, das hätte ich mir nie vorstellen können – weder in diesem Tempo noch in diesem Ausmass. Die USA haben fast die Hälfte der von der UNO koordinierten humanitären Hilfe finanziert. Ihr Rückzug ist also ein schwerer Schlag für das, was wir tun. Ein Schlag in den Magen.

Müssen Sie jetzt die halbe Welt im Stich lassen?

Wir waren zu stark von den USA abhängig. Nun müssen wir Wege suchen, weiterhin Leben retten zu können. Wir werden sicher nicht die halbe Welt im Stich lassen. Aber es ist klar: Wir müssen auf brutale Weise Prioritäten setzen. Entscheiden, welche Leben wir retten – und welche nicht.

Das klingt furchtbar.

Das ist es auch. Ich bitte derzeit die Verantwortlichen in allen Ländern, in denen wir tätig sind, Pläne dafür vorzulegen. Gleichzeitig bin ich aber ständig unterwegs und spreche Geberländer an, bisherige und neue. Gerade war ich in Brüssel, jetzt bin ich in Bern. Vor kurzem verbrachte ich eine Woche in der Golfregion. Überall trete ich für unsere Sache ein.

Sie hoffen also, dass andere Länder die Lücke füllen, die durch den Rückzug der USA entsteht.

Wir hoffen, dass alte Partner ihre Beiträge weiterhin leisten und dass neue dazustossen. Aber ich muss realistisch sein. Mein Ziel für dieses Jahr waren 47 Milliarden Dollar, um 190 Millionen Menschen versorgen zu können – ein ähnliches Ziel wie im Vorjahr. Ich weiss, dass ich das nicht erreichen werde. Schon 2024 haben wir das Ziel nicht erreicht.

Die Trump-Regierung hat 80 Prozent der Hilfsprojekte von USAID eingestellt. Sehen Sie bereits Auswirkungen?

Wir sehen es vor allem bei unseren NGO-Partnern. In den letzten Wochen wurden viele Mitarbeitende entlassen, die an der humanitären Front im Einsatz standen.

Wo?

Zum Beispiel in Afghanistan. Über 200 Gesundheitsstellen mussten geschlossen werden. Dadurch erhalten fast zwei Millionen Menschen keine Gesundheitsversorgung mehr. Auch 400 Lebensmittelabgabestellen haben dichtgemacht. Mancherorts arbeiten die Partner noch mit Geld, das wir letztes Jahr beschafft haben. Aber erste Auswirkungen sind sichtbar. So finanzieren die USA keine Projekte mehr, die etwas mit Gender oder mit Klimawandel zu tun haben. In den meisten Projekten wird jedoch beidem Rechnung getragen.

Ändern Sie die Programme nun so, dass Gleichstellung und Klimawandel nicht mehr erwähnt werden?

Wir glauben weiterhin an Chancengleichheit und Diversität. Auch den Klimawandel halten wir für real. Daran ändert sich nichts, bloss weil in einem Land eine neue Regierung gewählt wurde. Die Werte, die unserer Arbeit zugrunde liegen, bleiben dieselben. Wir sollten sie niemals aufgeben. Der Rest der internationalen Gemeinschaft beharrt übrigens darauf, das höre ich überall. Auch in der Schweiz.

Hoffen Sie, dass Gerichte den Entscheid der US-Regierung kippen?

Ich muss der letzte Optimist im Raum sein. Demnächst werde ich nach Washington gehen. Meine Aufgabe ist es, neue Argumente zu finden. Es reicht nicht mehr, an Moral und Ethik zu appellieren und den Wert von Softpower hervorzuheben.

Werden Sie die USA davor warnen, dass China durch ihren Rückzug an Einfluss gewinnt?

Bald werde ich nach China reisen – als Erster in diesem Amt seit 2009. Ich denke, das spricht für sich. Wenn man keine Leadership zeigt, übernehmen andere. Das werde ich in Washington sagen. Und: Man schafft kein goldenes Zeitalter, indem man sich von der Welt zurückzieht. Es geht nicht bloss um Mitgefühl. Neben ethischen Gründen, Menschen in Not zu helfen, sind auch nationale Interessen im Spiel. Die nächste Pandemie macht nicht an der Grenze halt. Die nächste Finanzkrise ebenso wenig, und Migration erst recht nicht. Die globalen Herausforderungen verschwinden nicht dadurch, dass man sie einfach ignoriert.

Befürchten Sie, dass andere Länder dem Beispiel der USA folgen und ihre Beiträge ebenfalls reduzieren?

Dieses Risiko besteht tatsächlich. Die USA sind schon jetzt nicht das einzige Land, das die Gelder gekürzt hat. Andere Länder haben ihre Hilfsbudgets ebenfalls reduziert – darunter mein eigenes Land, Grossbritannien …

und die Schweiz.

Ja, auch die Schweiz. Aber es gibt einen Unterschied. Der Rückzug der USA ist ideologisch begründet, da ist die Regierung sehr klar. In Europa dagegen erfolgen die Kürzungen eher wegen des Ukraine-Krieges und wegen der Sicherheitskrise. Europa setzt die Mittel anders ein. Alle Aussenminister, die ich treffe, versichern mir, dass sie immer noch uneingeschränkt an unsere Mission glauben.

Sie kommen von einem Treffen mit Aussenminister Ignazio Cassis. Hat er das auch gesagt?

Ja, Bundesrat Cassis war sehr deutlich. Er gab mir zudem ausgezeichnete Ratschläge zur Frage, wie man Macht verteilt – auf Basis des Modells der Schweiz. Ich versuche, im humanitären System den lokalen Akteuren mehr Macht zu geben.

Tom Fletcher, Leiter von Ocha, bei einem Interview im Bundesmedienzentrum in Bern am 20. März 2025.

Welche Weltregion bereitet Ihnen derzeit am meisten Sorgen?

Die Liste wird immer länger. Der Sudan ist weit oben – 30 Millionen Menschen benötigen dort Hilfe. Im Gazastreifen sind die Zustände apokalyptisch.

Sie waren vor kurzem im Gazastreifen. Erreicht die Hilfe die Bevölkerung?

Ich habe eine Nacht in einer Unterkunft der UNO verbracht, die nun getroffen wurde. Obwohl sie in einer humanitären Zone liegt. Ein Mitarbeitender wurde dabei getötet, fünf weitere wurden schwer verletzt. Während des Waffenstillstands hat die UNO Lebensmittel an zwei Millionen Menschen verteilt. Doch seit drei Wochen blockiert Israel die Hilfslieferungen. Die Lebensmittel verderben an der Grenze. Die Bevölkerung wird dafür bestraft, dass die Hamas immer noch existiert und immer noch Geiseln festhält. Es ist klar: Das ist eine Verletzung des humanitären Völkerrechts.

Welche Krise erhält zu wenig Aufmerksamkeit?

Auch diese Liste ist lang. Die Demokratische Republik Kongo gehört sicher dazu. Darfur ist ebenfalls weit oben auf dieser Liste. Die Sahelzone, Afghanistan, Myanmar …

Wie gehen Sie damit um, jeden Tag mit Leid konfrontiert zu sein?

Ich war in den letzten Monaten an mehreren Kriegsfronten und habe Menschen in schlimmen Situationen getroffen. Menschen, die Unvorstellbares durchmachen. Trotzdem ist mir immer auch Hoffnung und Resilienz begegnet. Das gibt uns Kraft. Ich denke an die ukrainische Lehrerin, die online eine Klasse in Chemie unterrichtete – nur Stunden nachdem ihr Zuhause zerstört worden war. Oder an das zwölfjährige Mädchen in Syrien, das seine Beine verloren hat. Es erzählte mir, es wolle Chirurgin werden, um die Beine seiner fünfjährigen Schwester retten zu können.

Sie haben jüngst gesagt, die Hilfsorganisationen selbst seien in einer tiefen Krise – einer Legitimitäts- und Finanzierungskrise. Leben wir in einer Zeit, in der Menschen – und Länder – nur noch für sich selbst schauen?

Wir leben in einer Zeit, in der sich Länder nach innen richten. Ich glaube, dass das auf die Finanzkrise von 2008/2009 zurückgeht. Damals habe ich für den britischen Premierminister Gordon Brown gearbeitet. Wir befürchteten von Anfang an, dass mindestens ein schwieriges Jahrzehnt folgen würde. Schon vor Donald Trump gab es Rückzugstendenzen. Was wir nun aber sehen, ist nicht nur Ignoranz, sondern ein Angriff auf unsere Werte.

Sie rufen dazu auf, die Hilfe neu zu denken. Was heisst das?

Ich habe einen Reformplan lanciert für mehr Effizienz und weniger Bürokratie. Was die Hilfsbereitschaft betrifft: Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass diese nach wie vor vorhanden ist, bei den allermeisten Menschen. Mag sein, dass die Leute Regierungen wählen, die sich von der Welt zurückziehen. Aber ich glaube nicht, dass wir als Menschen Rückschritte machen. Wenn wir herauszoomen und die Geschichte betrachten, geht es immer noch in die richtige Richtung – trotz schlechter Jahre oder Dekaden. Der Bogen des Universums neigt Richtung Gerechtigkeit.

Sie haben ein Buch mit dem Titel «Ten Survival Skills for a World in Flux» («Zehn überlebenswichtige Fähigkeiten für eine Welt im Fluss») geschrieben. Die Welt verändert sich gerade ziemlich rasant. Welches ist der wichtigste «survival skill»?

Darf ich zwei nennen?

Sie dürfen auch drei nennen.

Eine der wichtigsten Fähigkeiten ist die Empathie. Dazu gehört die emotionale Intelligenz. Es ist die Fähigkeit, zu sehen, dass wir alle die Welt durch einen Instagram-Filter betrachten – und dass jeder Filter anders ist, geprägt durch die eigene Erfahrung. Wenn man einmal verstanden hat, dass jede und jeder einen solchen Filter hat, ist es einfacher, die Perspektive des Gegenübers zu verstehen. Das ist eine Superkraft.

Und die zweite?

Für eine Gesellschaft ist die wichtigste Fähigkeit, ein guter Vorfahre zu sein, also Gutes weiterzugeben. Mit meinen Studierenden habe ich jeweils eine Übung gemacht. Ich habe Sie aufgefordert, durch den Park zu gehen und über ihr CV nachzudenken. Dann mussten Sie durch den Park gehen und über den Nachruf nachdenken, der einst über sie geschrieben wird. Auf der dritten Runde mussten sie darüber nachdenken, was dereinst bei ihrem Begräbnis gesagt wird. Dort spricht niemand über Qualifikationen und Ämter. Dort wird gesagt: Sie war freundlich, neugierig, mutig – eine gute Freundin. Diese Werte sollten der Kompass sein – für Individuen und für Gesellschaften.

Kann eine Gesellschaft eine gute Freundin sein?

Das Bild hilft dabei, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das müssen wir auch jetzt tun. In einem Moment, in dem alles wackelt. Vieles von dem, was wir für selbstverständlich hielten – die Genfer Konventionen, das Völkerrecht –, wird infrage gestellt. Wir müssen die Werte verteidigen, die uns wichtig sind und die wir weitergeben wollen.