Jahrelange VertuschungEnglands Kirchenfürsten geraten nach sadistischem Missbrauchsfall in Bedrängnis
Nach dem Sturz des höchsten anglikanischen Geistlichen müssen nun auch andere Führungsfiguren um ihre Ämter bangen. Die Kirche kämpft ums Vertrauen ihrer Mitbürger – und um ihre Rolle im Staat.
- Justin Welby trat als Erzbischof von Canterbury nach einem kritischen Bericht zurück.
- Der Bericht zeigt, dass die Kirche die Missbrauchsfälle eines Anwalts vertuschte.
- Kritiker fordern nun, dass auch weitere kirchliche Führer Konsequenzen ziehen.
- Die Church of England verliert zunehmend Mitglieder trotz ihrer staatlichen Rolle.
Mit dem erzwungenen Abgang des Erzbischofs von Canterbury, Justin Welby, ist diese Woche die schwere Krise der Kirche von England in vollem Umfang deutlich geworden. Inzwischen rufen Kritiker der Kirche und Opfer sexueller Gewalt nach dem Rücktritt weiterer Bischöfe und anderer Geistlicher an der Spitze der Institution. (Mehr zum Rücktritt des Erzbischofs lesen Sie hier: Dem Oberhaupt der anglikanischen Kirche blieb nur der Rücktritt).
Anlass der neuen Empörung über die Führung der Kirche war ein vergangene Woche veröffentlichter unabhängiger Untersuchungsbericht. Dieser wies nach, dass ein der Kirche eng verbundener, inzwischen verstorbener evangelikaler Anwalt namens John Smyth fast ein halbes Jahrhundert lang Jungen und junge Männer sadistisch prügeln und sexuell missbrauchen konnte, ohne dass die Kirchenführung auf Warnzeichen reagierte oder versuchte, Smyth zu stoppen.
Der Rücktritt von Justin Welby markiert eine Zäsur
Nachdem der Bericht dem Erzbischof vorwarf, kein Interesse am Ausleuchten dieses Falls gezeigt zu haben, blieb Justin Welby am Ende nur der Rücktritt. Er übernehme «persönliche und institutionelle Verantwortung» für den mangelnden Schutz der mindestens 130 Opfer Smyths, erklärte er.
Welbys Abgang sei bemerkenswert, finden britische Historiker. Seit Jahrhunderten sei kein Erzbischof von Canterbury mehr zum Rücktritt gezwungen worden. Schon dies markiere eine Zäsur.
Immer lauter wird nun aber auch die Forderung, dass neben Welby als dem ranghöchsten Geistlichen der Anglikaner weitere Führungsfiguren der etablierten Kirche Konsequenzen ziehen müssten. Der Untersuchungsbericht zu den Smyth-Gräueln weist immerhin sechs amtierenden Bischöfen, fünf pensionierten Bischöfen und dreissig anderen Geistlichen unterschiedlichen Rangs Mitverantwortung an den folgenschweren Versäumnissen zu.
Eng verwoben ist die Kirche nicht nur mit der Krone
Die sich daraus ergebenden Tumulte in der Kirche haben weitreichende Bedeutung für Grossbritannien. Die Church of England (CoE) verfügt als etablierte Staatskirche über erheblichen Einfluss im Land. Ihr Oberhaupt ist kein Bischof, sondern das britische Staatsoberhaupt, also der König. Der Monarch trägt den Titel «Supreme Governor» (Oberster Gouverneur der Kirche von England) und ernennt den jeweiligen Erzbischof von Canterbury, auf Vorschlag einer Kommission und letztlich des Premierministers, zu gegebener Zeit.
Eng verwoben ist die Kirche aber nicht nur mit der Krone. Dem Oberhaus, der Adelskammer in Westminster, gehören kraft Amtes 26 der 42 Bischöfe Englands an. Damit fällt den Anglikanern eine historisch festgeschriebene Rolle bei der Gesetzgebung und anderen parlamentarischen Aufgaben zu. Keine andere Kirche geniesst ein solches Privileg. Zudem spielen die Erzbischöfe herausragende Rollen bei grossen Staatsakten, stehen in engen Beziehungen zu den jeweiligen Regierungen und verschaffen sich Gehör über Radioansprachen und Fernsehprogramme aller Art.
Immer weniger Kirchgänger in England
In krassem Gegensatz dazu steht die stetig schrumpfende Basis der Staatskirche in der Bevölkerung. Noch als Welby vor knapp zwölf Jahren zum Erzbischof von Canterbury ernannt wurde, zählte man über eine Million Kirchgänger pro Woche. Im vorigen Jahr hatte sich diese Zahl weiter – um ein Drittel – reduziert.
Bei der letzten Volkszählung stufte sich weniger als die Hälfte der Befragten noch als christlich ein. Seit den 70er-Jahren haben zahlreiche Kirchengebäude ihre Tore geschlossen. Sie wurden zumeist verkauft und in der Regel zu weltlichen Zwecken umfunktioniert.
Mit diesem Widerspruch zwischen schwindenden Gemeinden und trotzig-zentraler Rolle im Staat hatten bereits mehrere Kirchenfürsten zu tun in den letzten Jahrzehnten. Zugleich fanden sie es immer schwieriger, die auseinanderstrebenden progressiven und traditionalistischen Flügel der Anglikaner zusammenzuhalten.
Justin Welby zum Beispiel trug mit bei zur Einführung der ersten weiblichen Bischöfe der Kirche, von denen es inzwischen mehr als zwei Dutzend gibt. Wesentlich schwerer fiel es ihm, wenigstens einen kirchlichen Segen für gleichgeschlechtliche Paare durchzusetzen, die in Standesämtern geheiratet haben.
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