Missbrauchsaffäre in EnglandDem Oberhaupt der anglikanischen Kirche blieb nur der Rücktritt
Hatte Justin Welby, der höchste Geistliche Englands, vor einem besonders scheusslichen Fall von Kindesmissbrauch jahrelang die Augen verschlossen? Am Dienstag brachte die Affäre ihn plötzlich zu Fall.
Am Ende blieb ihm nichts anderes übrig, als abzutreten. Nachdem er sich tagelang gegen einen solchen Schritt gesträubt hatte, kapitulierte der Erzbischof von Canterbury am Dienstagnachmittag mit einem Mal.
Denn der Druck auf Justin Welby, den ranghöchsten Geistlichen der Kirche von England, hatte sich seit voriger Woche unentwegt verstärkt. Immer mehr Kritiker forderten Welbys Rücktritt im Zusammenhang mit einer Missbrauchsaffäre schlimmster Art im Lager der Anglikaner – weil in der Kirche wie in der weiteren Öffentlichkeit Englands die Überzeugung gewachsen war, dass der Erzbischof sträflich versäumt hatte, Konsequenzen aus dieser Affäre zu ziehen und den Täter zur rechten Zeit zu stoppen.
Welby nämlich soll spätestes seit seinem Amtsantritt vor elf Jahren vom systematischen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch einen ihm bekannten und der Kirche eng verbundenen Anwalt gewusst haben. Er zeigte aber offenbar wenig Interesse an der Aufklärung des Falls.
Infolge dieser «Pflichtverletzung», wurde ihm vorgeworfen, habe er jahrelang weitere Gewalttätigkeiten gegenüber wehrlosen jungen Opfern zugelassen. An die Öffentlichkeit gelangt war die Affäre in vollem Umfang erst vor wenigen Tagen, durch die Publikation eines Untersuchungsberichts über «die brutalen und entsetzlichen» Taten des 2018 verstorbenen Rechtsanwalts John Smyth «über einen Zeitraum von über vierzig Jahren hinweg».
Auf die Warnungen folgten Weihnachtsgrüsse
Smyth, den Welby Mitte der 70er-Jahre in einem Urlaubscamp kennen gelernt hatte und von dem er sich damals «beeindruckt» zeigte, übernahm schon bald nach jener ersten Begegnung die Leitung der christlich-evangelikalen «Iwerne-Ferienlager», vornehmlich für Jungen aus Privatschulen der jeweiligen Region.
Er begann, sich Dutzende von Jungen gefügig zu machen, sie – angeblich wegen ihrer «Sünden» – mit einem Schlagstock auf grausamste Weise blutig zu prügeln und sie sexuell zu missbrauchen. Während er damit in England anfing, setzte er diese Praxis von 1984 an in Zimbabwe und später in Südafrika fort.
130 Missbrauchsfälle, bis hin zu seinem Tod vor sechs Jahren, sind Smyth inzwischen nachgewiesen worden. Und schon 1981 sollen Justin Welby, der damals noch als Manager eines Ölkonzerns in Paris arbeitete, Warnungen durch den Pfarrer der Kirchgemeinde, die er dort frequentierte, zu Ohren gekommen sein.
Dennoch schickte Welby Smyth auch in den Folgejahren regelmässig Weihnachtsgrüsse und unterstützte dessen Ferienlager in Zimbabwe mit Spenden. Er habe gedacht, dass sich die früh erwähnten Klagen von Schuljungen nur auf Smyths «Persönlichkeit» bezogen hätten, nicht auf irgendwelche Übeltaten, gab er später an.
Auch die Bischöfe stellten sich gegen ihn
Nachdem er aus dem Öl-Business zur englischen Staatskirche gewechselt hatte und in der dortigen Hierarchie schnell aufgestiegen war, wurde Welby wenige Monate nach seiner Berufung zum Erzbischof von Canterbury im Jahr 2013 über die gegen Smyth erhobenen Vorwürfe offiziell informiert. Damals habe man ihm «zu verstehen gegeben», dass diese Dinge mit der Polizei besprochen würden, erklärte Welby später. Das war freilich, auf amtlicher Ebene, nicht der Fall.
Und Welby selbst habe einfach «nie genug Neugierde» an den Tag gelegt, um den Sachverhalt weiterzuverfolgen, hiess es dazu im Untersuchungsbericht vielsagend. Der Erzbischof habe den Fall schlicht unter den Tisch fallen lassen, sind Welbys Kritiker, darunter einige seiner Opfer, überzeugt.
Welby seinerseits entschuldigte sich zunächst dafür, dass es «Versäumnisse» bei der Aufklärung der Affäre gegeben habe. Leider sei die Sache mit Smyth «nicht energisch genug» verfolgt worden. Einen Grund zum Rücktritt, für sich persönlich, sah er aber noch zu Beginn dieser Woche absolut nicht.
Das sahen andere anders in der Kirche von England. Eine von Synodalmitgliedern und Pfarrern initiierte Onlinepetition, die die sofortige Ablösung Welbys verlangt, hatte am Dienstagmittag bereits 12’000 Unterschriften erreicht.
Welbys Position sei «unhaltbar» geworden, fand auch Helen Ann Hartley, die Bischöfin von Newcastle: «Ich denke, dass die Leute zu Recht fragen, ob sie der Kirche von England vertrauen können, was ihre Sicherheit angeht.» Die Antwort auf diese Frage sei offenkundig Nein. Auch Stephen Cherry, der Dekan der Anglikaner am King’s College Cambridge, vertrat die Ansicht, dass Welby «jetzt wirklich seinen Rücktritt einreichen muss».
Londons «Daily Telegraph» zufolge liessen mehrere andere Bischöfe Welby Ähnliches «privat» wissen. Wenig Unterstützung wurde dem Kirchenfürsten auch durch Premierminister Sir Keir Starmer zuteil, der unterstrich, er denke vor allem «an die Opfer, die hier offenkundig ganz, ganz schlimm im Stich gelassen wurden». Alles andere sei aber «letztlich Sache der Kirche selbst».
Dass er sehr rasch allen Rückhalt verlor, führte Welby offensichtlich zur Einsicht, dass er mehr «persönliche Verantwortung» als geplant würde übernehmen müssen. Darum, erklärte er, habe er sich jetzt doch dafür entschieden, sein Amt vorzeitig niederzulegen. Das Oberhaupt der Kirche, König Charles III., den er immerhin jüngst noch krönte, habe er entsprechend «untertänigst um Erlaubnis gefragt».
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