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Parteitag der britischen Konservativen
Johnson hat die Brexit-Nachwirkungen unterschätzt

Premierminister Boris Johnson bläst auf dem Weg zum Parteitag in Manchester der Wind ins Gesicht. 
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Missmutig trotteten Boris Johnsons Parteigänger zum Konferenzzentrum in Manchester, um sich um ihren Premierminister zu scharen. Dabei hätte dieser Parteitag eine verspätete Siegesparade sein sollen, nachdem die Konservativen ihren Wahltriumph vom Dezember 2019 im vorigen Herbst wegen der Pandemie nur per Zoom feiern konnten.

Immerhin hatten sie, wie versprochen, nach den Wahlen den Brexit «ein für alle Mal» über die Bühne gebracht. In diesem Sommer hatten sie ausserdem angenommen, dass es Anlass zu neuer Post-Covid-19-Zuversicht geben würde – nach den Impferfolgen auf der Insel, dem Ende aller Restriktionen im Juli und einem spürbaren wirtschaftlichen Aufschwung im August. Von der offiziellen Opposition, mit ihrem nicht allzu charismatischen Labour-Vorsitzenden Keir Starmer, glaubt Johnson bis heute wenig befürchten zu müssen.

Am Sonntag sagten die letzten Umfragen den Tories einen klaren Vorsprung auf Labour voraus. Und doch finden sich die Konservativen gegenwärtig in einer schwierigen Situation: In vielen Geschäften gibt es Lücken im Warenangebot, und die werden immer grösser. Und Heiz- und Treibstoffkosten beginnen noch schneller in die Höhe zu schiessen. Vor allem aber wollen sich die langen Autoschlangen partout nicht auflösen, die sich an zahllosen Tankstellen gebildet haben seit vorletztem Donnerstag.

Panikkäufe und Chaos

Denn das Fehlen Tausender von Tanklasterfahrern, das zur vorübergehenden Schliessung von Tankstellen zwang, hat zu Panikkäufen und Chaos geführt. Trotz der Versicherungen der Regierung, alles werde sich «sehr schnell» wieder regeln, herrscht vor allem in London und im englischen Südosten noch immer akute Treibstoff-Angst.

Am Montag soll nun die Armee mit 100 Wagen und Fahrern ausrücken, weil man in Downing Street Handlungsbereitschaft signalisieren will. Sehr viel kleinlauter als zuvor haben einzelne Minister freilich eingeräumt, dass es «ein paar Wochen dauern» könne, bis man das Problem in den Griff bekomme. Rod McKenzie vom Verband der britischen Spediteure befürchtet sogar, dass man ein ganzes Jahr auf eine echte Normalisierung warten muss.

Zornige Reaktionen hat sich unter diesen Umständen die Regierung eingehandelt, die zudem auch 5000 Sondervisa bewilligt hat für LKW- und Tanklasterfahrer aus der EU. Man brauche aber locker «das Zehnfache» dieser Zahl an Visa – auf einen grosszügigen Zeitraum hin angelegt, meint McKenzie, der Chef des Frachtverkehrsverbandes.

«Man kann Lastwagenfahrer nicht aus dem Hut zaubern.»

Sir Roger Gale, Tory-Abgeordneter

Premier Johnson selbst verkündete am Sonntag erneut, britische Frachtunternehmen dürften sich nicht länger billiger Auslandskräfte bedienen, sondern müssten post Brexit britische Staatsangehörige schulen und einstellen. Man könne aber Lastwagenfahrer nicht aus dem Hut zaubern, kritisierte der Tory-Hinterbänkler Sir Roger Gale.

Sein Parteikollege Tobias Ellwood, der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Unterhaus, stöhnt in gleicher Weise: «Einfach nur darauf zu warten, dass alles irgendwann zur Normalität zurückkehrt, ist keine Strategie.» Andere konservative Abgeordnete, vor allem von der Parteirechten, klammern sich einstweilen an ihren harten Brexit. Für sie sind, wie für Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng, die gegenwärtigen Engpässe schlicht eine schmerzhafte «Übergangsphase» auf dem Weg in eine bessere Zeit. Selbst ihnen ist aber bewusst, dass das auf wenig Sympathie in der Bevölkerung trifft – weil die Lage im Land überall ernst zu werden beginnt.

Denn es stockt ja nicht nur die Benzinversorgung. Da es Grossbritannien insgesamt an 100’000 Lieferwagen- und Lastwagenfahrern und seit dem Abzug der Europäer an Tausenden von Arbeitskräften in vielen Bereichen fehlt, sind weitflächig Geschäfte, Supermärkte und Gaststätten, aber auch weite Teile der Landwirtschaft betroffen. Manche Ernten konnte man nicht einbringen dieses Jahr. Schweine kann man, weil es an qualifizierten Metzgern fehlt, nicht schlachten. Geflügel wird weit weniger gezüchtet als früher – auch die Zahl der für ein britisches Weihnachtsfest unerlässlichen Truthähne hat sich drastisch reduziert.

Steigende Kosten – weniger Sozialhilfe

Zugleich warnen Tories, die ärmere Gebiete, etwa im Norden Englands, repräsentieren, dass unter ihren Wählern die reinste Panik herrsche wegen der steil steigenden Preise und Heizkosten, gekoppelt mit einem systematischen Abbau von Sozialhilfe, von der Regierung just beschlossenen Steuererhöhungen und dem Ende der staatlichen Unterstützung für durch die Pandemie bedrohte Jobs.

Hunderttausende von Briten könnten im Zuge dieser Massnahmen arbeitslos werden und Millionen in ernste finanzielle Schwierigkeiten geraten, warnen konservative Abgeordnete aus früheren Labour-Wahlkreisen, die den Tories 2019 im Zuge der Brexit-Begeisterung zugefallen sind. Boris Johnson könne nicht grosse Pläne für ein faireres Britannien schmieden und zugleich «den ärmeren Gemeinden im Norden Englands das Geld aus der Tasche ziehen», murrt etwa der Parlamentarier Jake Berry.

Dominic Cummings, voriges Jahr noch Boris Johnsons Chefberater und die graue Eminenz in der Regierungszentrale, stösst nun ins gleiche Horn wie die Kritiker. «Es ist doch offenkundig», meinte er anlässlich der Eröffnung des Parteitags, «dass es die Regierung versäumt hat, sich um Versorgungsprobleme zu kümmern, über die wir schon im Mai 2020 geredet haben.»

Cummings rät seinen Landsleuten, sich lieber rechtzeitig einzudecken und die Vorratskammern zu füllen – weil «Boris», sein früherer Boss, «mit Sicherheit nicht begreift, was hier vor sich geht».