Benzinkrise in GrossbritannienNun sollen Soldaten die Tanklaster fahren
Den Briten fehlen 100’000 qualifizierte Chauffeure, die Regierung kriegt das Problem nicht in den Griff. Deshalb stehen die Menschen Schlange an Tankstellen – zumindest an denen, die überhaupt Benzin haben.
Aus Angst vor einer weiteren Eskalation der Benzinkrise in Grossbritannien hat die Regierung Boris Johnsons beim Militär Hilfe angefordert: nicht zum Kämpfen, sondern zum Fahren. Soldaten, die in aller Eile als Tanklastwagenfahrer geschult werden sollen, halten sich für einen Einsatz bereit. Allerdings geht es zunächst nur um 150 Soldaten, während es den Ölkonzernen zur Auslieferung ihres Treibstoffs an die Tankstellen an rund 1000 Fahrern fehlen soll. Ausserdem dürfte die Vorbereitung der Betreffenden auf einen solchen Einsatz rund zehn Tage dauern.
«Viel zu spät und viel zu wenig» habe die Regierung hier unternommen, klagen Johnsons Kritiker – und vom Premierminister selbst sei in dieser Krise «überhaupt nichts zu sehen». Unterdessen bildeten sich auch am Dienstag wieder lange Schlangen an der Zufahrt zu Tankstellen vor allem in englischen Stadtgebieten. Viele Tankstellen waren geschlossen, weil gar kein Benzin da war. Schon seit letztem Samstag versuchten britische Autofahrer in Panik überall ihre Tanks aufzufüllen, nachdem BP zuvor Lieferschwierigkeiten gemeldet hatte.
Schlägereien zwischen genervten Fahrern
Der Ansturm auf die Zapfsäulen hatte das Problem schnell verschärft – und viele Tankstellen trockengelegt. Anfang Woche glaubte die Regierung erste Anzeichen für eine «Entspannung der Lage» zu erkennen. An den meisten Tankstellen war der Andrang aber immer noch enorm. Vielerorts musste Polizei aufziehen, um die Zufahrt zu Tankstellen zu sichern und Verkehrsstaus zu verhindern. Von mehreren Tankstellen wurden Handgreiflichkeiten zwischen Fahrern gemeldet. Ärzte, Pfleger und Ambulanzfahrer klagten bitter, ihren Dienst nicht tun zu können.
«Wir haben hier ein echtes Problem, dass Mitarbeiter des Gesundheitswesens ihre Jobs nicht ausüben können», hiess es beim Britischen Ärzteverband. «Wir können nicht zwei bis drei Stunden lang irgendwo nach Benzin Schlange stehen, wenn wir unsere Patienten betreuen müssten», erklärte ein Sprecher. Wer eine entsprechende Tätigkeit ausübe, müsse unverzüglich Zugang zu Benzin erhalten, mahnten viele Verbände – am besten über spezielle Tankstellen, deren Benzin für «key workers», für Arbeiter in Schlüsselbereichen, reserviert sei.
Ökonomen in London schwankten gestern zwischen Bangen und Hoffen. Wenn sich die Situation zur kommenden Woche entkrampfe, lasse sich der wirtschaftliche Schaden wahrscheinlich noch begrenzen, meinten sie. Falls die Krise aber länger andauere, könne der Arbeitsausfall gefährlich zu Buche schlagen, warnte eine Unternehmensberaterfirma: «Zumal fehlendes Benzin für Last- und Lieferwagen das Manko an Warentransporten noch verschlimmern würde, das uns bereits zu schaffen macht.»
Zweifel hat auch die Ankündigung der Regierung ausgelöst, 5000 Arbeitsvisen extra für LKW-Fahrer aus dem EU-Bereich und aus anderen Teilen der Welt ausstellen zu wollen, um kurzfristig Abhilfe zu schaffen. Diese Visen sollen drei Monate gültig sein. Wegen der damit verbundenen Bürokratie kann man mit dem Eintreffen solcher Fahrer aber nicht vor Ende Oktober rechnen. Und die Zahl von 5000 halten Experten für viel zu niedrig, weil auch die Auslieferung vieler anderer Waren stockt gegenwärtig. Immerhin fehlt es insgesamt an rund 100’000 qualifizierten Fahrern in Grossbritannien.
«Den meisten Leuten ist doch schnurzegal, ob ein Lastwagen von einem britischen oder einem ausländischen Fahrer gefahren wird.»
Schon 5000 Kurzzeitvisen auszustellen, ist der Regierung freilich schwergefallen – weil sie die betreffenden Jobs post Brexit britischen Fahrern vorbehalten wollte. Fahrer vom Kontinent «unterbieten» ihre britischen Kollegen nur, haben Johnsons Minister in den letzten Tagen mehrfach erklärt. Rachel Reeves, die Finanz-Sprecherin der oppositionellen Labour Party, meinte dazu aber, die Regierungsmassnahme sei völlig unzureichend: «Den meisten Leuten ist doch schnurzegal, ob ein Lastwagen von einem britischen oder einem ausländischen Fahrer gefahren wird – solange das Benzin in die Tankstellen kommt und sie ihre Autos damit füllen können und solange wir Lebensmittel in unseren Supermärkten haben.»
Gänzlich offen ist auch, ob europäische Fahrer überhaupt ihre Jobs in der EU aufgeben und für ein Vierteljahr nach Grossbritannien übersiedeln wollen, um dort auszuhelfen. Viel zitiert wurde am Dienstag eine Reaktion des niederländischen Lastwagenfahrer-Verbandes. In dieser hiess es: «Die EU-Fahrer, mit denen wir gesprochen haben, werden nicht mit einem Kurzzeitvisum nach Grossbritannien kommen, um den Briten aus der Scheisse zu helfen, für die sie selbst verantwortlich sind.»
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