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Parteitag der krisengebeutelten Labour Party
Der Labour-Chef ist auf der Suche nach sich selbst

Keir Starmer ist seit April 2020 Labour-Chef.
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Die Woche, in der Keir Starmer endlich klarstellen will, wer er ist, beginnt mit der Frage, ob nur Frauen einen Gebärmutterhals haben. Man kann sagen, dass die Woche nicht so beginnt, wie Keir Starmer sich das vorgestellt hat.

Es ist dies die jährliche Konferenz-Woche der britischen Labour-Partei, sie haben dafür ein paar Hotels am Strand von Brighton gemietet. Manchmal tauchen auf einem der Fernseher, die überall stehen, Nachrichten aus der Welt da draussen auf, aber kaum jemand schaut hin. Parteitage sind Tage im Tunnel der Selbstfindung, für Labour ganz besonders: In zwei Jahren sind wahrscheinlich Wahlen im Vereinigten Königreich, und Labour will nach elf Jahren Opposition wieder regieren.

Keir Starmer, 59, ehemaliger Oberstaatsanwalt, ist seit April 2020 Chef von Labour. Wäre die britische Politik ein Videospiel, dann wäre Boris Johnson die stärkste Spielfigur, seine Sonderfähigkeit wäre ein Schutzschild, an dem alles abprallt, und wenn man mit ihm so durch die Levels rennen würde und all die Theresa Mays und Jeremy Corbyns besiegt hätte, würde irgendwann Keir Starmer auftauchen, als Endgegner. In zwei Jahren schon könnte dieser Moment gekommen sein, und niemand weiss, was dann passieren würde. Niemand weiss, was die Sonderfähigkeit der Keir-Starmer-Figur wäre.

Er ist noch nicht lange Politiker

Sir Keir Rodney Starmer, aufgewachsen im wohlhabenden Surrey, seit 2015 Abgeordneter im Unterhaus, ist noch nicht lange Politiker. Die Woche in Brighton ist sein erster Parteitag vor Publikum, das macht sie so wichtig für ihn, den künftigen Premierminister, wenn es nach ihm geht. Das Parteitagspublikum besteht aus Mitgliedern, aber auch aus Journalisten. Letztere treten in Grossbritannien gern in Regimentsstärke auf.

Wer ist Keir Starmer? Egal, wo er in Brighton auftaucht, die Frage ist schon da.

Am Sonntag sitzt Starmer in Brighton im Fernsehstudio von Andrew Marr, im Hintergrund plätschert das Meer. Andrew Marr ist einer der bekanntesten Politik-Interviewer des Landes, jeden Sonntag stellt er in der BBC seinen Gästen direkte und knapp formulierte Fragen. Marr lächelt nie, die Interviews sind oft eher Verhöre. «Keir», sagt Marr, «Sie sind seit 18 Monaten Labour-Chef. Warum müssen Sie sich den Leuten immer noch vorstellen?»

Im Grunde weiss Marr die Antwort, es geht auch weniger um das, was Starmer darauf sagen würde, nämlich dass ein Politiker es im Lockdown verdammt schwer habe, seine Botschaft unters Volk zu bringen. Aber der Punkt ist gemacht, weiter zum nächsten Thema: dem Gebärmutterhals.

Zwischendurch hat man das Gefühl, dass der Tunnel der Selbstfindung für Labour keinen Ausgang hat.

In der Gebärmutterhals-Angelegenheit geht es, verkürzt gesagt, um Äusserungen der Labour-Politikerin Rosie Duffield, es sei für sie klar, dass nur Frauen einen Gebärmutterhals hätten, ungeachtet der so wichtigen Rechte für die Transgender-Bewegung. Duffield wurde dafür aus der Transgender-Szene scharf kritisiert, das Thema köchelte tagelang vor sich hin. Am Sonntag sagt Starmer zu Marr etwas verunsichert, es sei falsch, zu sagen, nur Frauen hätten einen Gebärmutterhals. Der Tory-Gesundheitsminister Sajid Javid reagierte umgehend in mehreren Zeitungen: Wie bitteschön solle ein Mann, der medizinische Tatsachen nicht kenne, das Gesundheitswesen führen?

Es läuft nicht für Keir Starmer an den ersten Tagen, wobei auch nicht hilfreich ist, dass er unbedingt ein paar Änderungen der Parteisatzung zum Wahlprozedere der Parteiführung durchdrücken will, technische Details eigentlich. Starmer hält sie für wichtig: Er glaubt, damit die Kämpfe zwischen dem hart linken Flügel und dem Rest der Partei besser in den Griff zu bekommen. Das mag stimmen, doch was erst einmal folgt, ist ein Kampf zwischen dem hart linken Flügel und dem Rest der Partei über genau jene Regeländerungen.

Der interne Streit ist zwar Teil der Labour-DNA. Aber: Ein Streit über die Parteisatzung, während draussen die Tory-Regierung von einer Krise in die nächste schlittert? Zwischendurch hat man das Gefühl, dass der Tunnel der Selbstfindung für Labour keinen Ausgang hat.

Jeremy Corbyn, der linksradikale Vorgänger von Labour-Chef Keir Starmer. 

Andy Burnham, der Bürgermeister aus Manchester und in den meisten Umfragen derzeit beliebtester Labour-Politiker, sagt täglich irgendwo in Brighton, Labour brauche Lösungen, keine Satzungsdebatten. Die Medien greifen jedes Zitat von Starmers Kritikern auf, ein paar Abstimmungen laufen nicht so, wie Starmer wollte, und dann tritt auch noch ein Mitglied seines Schattenkabinetts zurück. Je länger die Konferenz dauert, desto mehr wirkt sie wie Sir Keirs Kampf um sein politisches Überleben. Der «Guardian» schreibt am Dienstag, im Hintergrund stünden schon die Nachfolger bereit.

«Was wollt ihr?»

Um kurz nach 12 am Mittwoch beginnt er seine Rede. Starmer spricht sehr persönlich, erzählt von «Mum and Dad», zwischendurch stellt er die Eltern einer ermordeten jungen Frau vor, denen er als Anwalt half. Das Publikum applaudiert im Stehen, die Mutter weint. Fast eineinhalb Stunden dauert seine Rede, er macht konkrete Vorschläge, spricht über alle Themen einer Regierungspartei, nennt Zahlen und Fakten.

Das Wort «serious», ernsthaft, verwendet er besonders oft. Als wiederholt Zwischenrufer aus dem linken Flügel stören, sagt er: «Was wollt ihr, Slogans rufen oder Leben verändern?»

Wer ist Keir Starmer? Er ist kein Menschenfänger, kein Boris Johnson, er ist auch nicht wie Jeremy Corbyn, sein linksradikaler Vorgänger. Für den Moment ist das genug: Als Starmer den Saal in Brighton verlässt, wird er von den Mitgliedern gefeiert.