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Johnsons Ex-Berater rechnet ab
«Nicht mal einen Plan, um die Leichen unter die Erde zu kriegen»

Tag der Abrechnung: Boris Johnsons ehemaliger Chefberater Dominic Cummings kritisiert den Premier heftig.
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Voriges Jahr war er noch Boris Johnsons «stiller Teilhaber» in der Regierungszentrale – der wohl einflussreichste Berater eines Premierministers in neuerer Zeit. Als Johnsons «Wunderwaffe» im Kampf gegen Brexit-Verächter, Tory-Rebellen und Oppositionsparteien galt er. Ohne Dominic Cummings wäre Johnson nie an die Macht gekommen, so lautet die allgemeine Überzeugung im Vereinigten Königreich.

Seit der Regierungschef seinen persönlichen Assistenten und Chefstrategen aber im vorigen November schmählich verstiess, hat sich der ehemals enge Verbündete gegen seinen früheren Herrn gerichtet. In den letzten Wochen hat Cummings Johnson vorgeworfen, dieser habe in der Covid-Krise völlig versagt. Er sei «weit hinter den Standards von Kompetenz und Integrität zurückgeblieben», die das Land verdient habe, war sein Verdikt.

Ein Spektakel, live übertragen

Um sich zu erklären, wurde der 49-jährige jetzt vor zwei Unterhaus-Ausschüsse geladen, die erste Rückschlüsse auf mögliche Verfehlungen der Regierung während der Pandemie ziehen wollten. Gestern stand Cummings den Ausschuss-Mitgliedern stundenlang Rede und Antwort. Seine Befragung, live übertragen aus dem House of Commons, wurde mit Spannung erwartet.

Schon vorab hatte Dominic Cummings bei seinem Rachefeldzug schweres Geschütz aufgefahren. Er hatte Johnson beschuldigt, mit seinem Zaudern zweimal Lockdowns in Grossbritannien sträflich verzögert und so den «unnötigen Verlust von Zehntausenden von Leben» verschuldet zu haben. Auch das britische Testsystem sei lange Zeit «ganz schlecht» und die Politik zur Abschottung der Grenzen «der reinste Witz» gewesen, klagte Cummings.

«Völliges Chaos»

Zeitweise habe die Regierung gezielt eine Politik der Herdenimmunität verfolgt, die zu einer «echten Katastrophe» hätte führen können, hätte man Johnson nicht noch in letzter Minute davon abgebracht. Vor den Unterhaus-Ausschüssen bekräftigte Cummings am Mittwoch seine Überzeugung, dass zu Beginn der Krise «völliges Chaos» geherrscht habe in der Regierung – ein wenig wie «bei der Ankunft der Marsmenschen» in einem schlechten Katastrophenfilm im Kino.

Einen richtiggehenden Plan zur Covid-Bekämpfung habe die Regierung lange nicht gehabt. Zusätzliche Experten seien nicht zu Rate gezogen worden, trotz seines Drängens in diesem Punkt. Unglücklicherweise, fügte er an, sei Johnson stets «abgelenkt» gewesen, da es ihm mehr um die Stimmung in der Presse gegangen sei und bei den eigenen Hinterbänklern als um die wirklichen Gefahren. Noch im Februar habe der Premier Covid-19 als «blosses Schauermärchen» abgetan.

Planlos, überfordert, beratungsresistent: So stellt Ex-Berater Cummings den britischen Premier Boris Johnson dar. 

Vor Ende Februar habe Johnson gar keinen Bedarf für dringliches Handeln gesehen. Und noch bis in den März hinein habe das Kabinett eine Politik der Herdenimmunität verfolgt. Kabinettssekretär Mark Sedwell habe dem Premier sogar empfohlen, die Veranstaltung von «Windpocken-Partys» überall im Land anzuregen, damit die Ansteckung schneller vorankommen könne. Viele Wochen zu spät sei Johnson erst aus seiner fatalen Unentschlossenheit aufgeschreckt, als man ihm in Panik erklärte: «Wir haben nicht mal einen Plan, um die Leichen unter die Erde zu kriegen.»

Die Ausschuss-Vorsitzenden, die eher moderaten Tory-Abgeordneten Greg Clark und Jeremy Hunt, hielten Cummings vor, dass er seinerzeit ja ein ziemlich wichtiges Rädchen der Regierungsmaschinerie gewesen sei und nicht einfach nur ein Zuschauer in der Regierungszentrale. Für seine eigenen Versäumnisse entschuldigte sich der frühere Chefberater daraufhin.

Der Gesundheitsminister, ein Lügner?

Scharfe Vorwürfe erhob Cummings auch gegen Gesundheitsminister Matt Hancock, den er beschuldigte, «immer wieder gelogen» zu haben. Sich das anhören zu müssen, konnte für Johnson und seine Minister gestern nicht einfach sein. Der Regierungschef selbst musste ausserdem mittags an der wöchentlichen Fragestunde des Premierministers im Sitzungssaal des Unterhauses teilnehmen, während Cummings im Ausschuss-Zimmer noch immer freimütig sprach.

Von Oppositionsführer Sir Keir Starmer auf die Anschuldigungen seines Ex-Assistenten angesprochen, beteuerte Johnson zu diesem Zeitpunkt nur, seine Regierung habe die Bevölkerung von Anfang an nach bestem Vermögen zu schützen gesucht. Nun sei es aber Zeit, endlich nach vorn zu blicken und zum Beispiel die Nachricht zu begrüssen, dass «jetzt schon alle Personen im Alter von mindestens 30 Jahren sich impfen lassen können» im Königreich.

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In seinem weissen Hemd, den Kragen lässig offen und um keine Antwort verlegen redete sich Cummings unterdessen in kühler Erbarmungslosigkeit weiter seinen Zorn über seine Entfernung von der Macht von der Seele, indem er einen scharfen Schuss nach dem anderen abfeuerte auf das Top-Tory-Team.

Bisher war Cummings nur ein einziges Mal öffentlich aufgetreten – nämlich als er vor einem Jahr bei einer Pressekonferenz im Rosengarten der Downing Street seine heimliche Fahrt nach Durham und Barnard Castle gerechtfertigt hatte, mit der er seinerzeit gegen den Lockdown verstossen hatte, der ihm nun angeblich so wichtig war.

Mittlerweile hofft man im Regierungslager, dass Cummings sich selbst damit so viel Schaden zufügte, dass er als Starzeuge gegen Johnson unglaubwürdig geworden ist. Einen Vorgeschmack lieferte das gestrige Verhör freilich auf die grosse öffentliche Untersuchung der Covid-Politik seiner Regierung, die Johnson inzwischen hat anordnen müssen. Sie soll allerdings erst in einem Jahr beginnen und dann womöglich mehrere Jahre dauern. Bis dahin sind die Kritiker des Premiers darauf angewiesen, dass weiter das eine oder andere bekannt wird – und Cummings nicht ablässt von seiner Scharfschützen-Aktion.