Proteste in PolenJetzt wollen sie das Land lahmlegen
Im ganzen Land demonstrieren Polinnen und Polen gegen ein Gerichtsurteil, das die Abtreibung fast vollständig verbietet. Am Mittwoch soll es zum Generalstreik kommen.
Wenn Polens Frauen am Mittwoch einen Generalstreik gegen das weitgehende Abtreibungsverbot beginnen, dürfte dies für die Regierung noch die angenehmste Protestform sein: Seit das von der Regierungspartei PIS kontrollierte Verfassungsgericht am 22. Oktober Abtreibungen selbst nach einer Vergewaltigung oder bei schwerer Schädigung des Embryos für verfassungswidrig erklärte, haben Polinnen – und Polen – täglich in insgesamt mehr als 100 Städten des Landes protestiert.
Demonstrationen gab es auf Strassen und Plätzen, vor und in Kirchen der katholischen Kirche, vor Büros der Regierungspartei, dem Verfassungsgericht und dem Warschauer Haus von Jaroslaw Kaczynski, Chef der PIS und Polens faktischer Regierungschef. Und die Protestkundgebungen könnten sich noch ausdehnen, etwa bei einer für Freitag dieser Woche angesetzten Kundgebung in der Hauptstadt Warschau.
Warschau steht still
Sollten die PIS und Kaczynski darauf gesetzt haben, die Ausweitung des ohnehin weitgehenden Abtreibungsverbots würde angesichts der in Polen explodierenden Corona-Zahlen keine grossen Proteste hervorrufen, sahen sie sich getäuscht. Zum bisherigen Höhepunkt der Proteste kam es am Montagabend in Warschau: Tausende vor allem junger Frauen – und etliche Männer – besetzten quer durch die Hauptstadt zentrale Kreuzungen, setzten sich auf Strassen oder Tramgleise. Warschau stand still. Später protestierten sie vor der PIS-Zentrale oder vor dem Hauptbahnhof. Sprechchöre und Transparente liessen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: «Fickt die PIS!» war ein weit verbreiteter Slogan.
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Von Mittwoch an hat die führende Frauenrechtsaktivistin Marta Lempart zum Generalstreik polnischer Frauen aufgerufen. «Ab Mittwoch gehen wir nicht zur Arbeit, in die Schule, in die Hochschule und öffnen unsere Firmen nicht», gab Lempart die Richtung vor. Die Polinnen haben bereits Erfahrung mit Generalstreiks: Am 3. Oktober 2016 blieben schon einmal mindestens 200’000 Frauen der Arbeit fern, als die PIS einen ersten Versuch zur Durchsetzung eines kompletten Abtreibungsverbots unternahm, ihr Anliegen damals aber doch zurückzog.
Die Wut auf die Kirche ist gross
Die katholische Kirche und ihr nahestehende PIS-Abgeordnete haben seit Jahren für ein komplettes Abtreibungsverbot lobbyiert. Entsprechend gross ist die Wut vieler Frauen auf die Kirche. In Posen, Sitz von Erzbischof Stanislaw Gadecki, dem Vorsitzenden der Polnischen Bischofskonferenz, marschierten Frauen mit Protesttransparenten in den Gottesdienst. Im 16’000-Einwohner-Städtchen Przeworsk sprühten sie die Losung «Beschäftigt euch mit dem Körper Christi – Finger weg von den Frauen!» an die Kirchenwand.
Die Regierung ist umso geschockter, als Proteste auch in Kleinstädten und Dörfern verbreitet sind, selbst in Regionen, die als Hochburgen der PIS gelten. Auch etliche Männer und Gegner anderer Entscheidungen der PIS solidarisieren sich mit den Frauen. In 10’000 Einwohner kleinen Nowy Dwór Gdański etwa beteiligten sich sogar Bauern mit Traktoren und Erntemaschinen am Protest.
Warschauer Medien zufolge berieten die Spitzen der Regierungskoalition in einer Krisensitzung über das weitere Vorgehen – über den Inhalt der Gespräche war zunächst nichts bekannt. Oppositionspolitiker wie der Chef der Bauernpartei PSL schlugen vor, das Urteil des Verfassungsgerichts vom 22. Oktober einfach nicht zu veröffentlichen – dann habe es auch keine Wirkung. Parlamentarier der grössten Oppositionspartei im Senat, der oberen Parlamentskammer, betonten, das Urteil habe ohnehin keinerlei juristische Gültigkeit: Schliesslich seien drei PIS-nahe Juristen beteiligt gewesen, die von Ende 2015 an illegal anstelle rechtmässig gewählter Verfassungsrichter installiert worden, jedoch keine Richter seien.
Die meisten treiben im Ausland ab
Frauenrechtsorganisationen haben das Urteil scharf kritisiert. Die Zahl der illegalen Abtreibungen mit gefährlichen Methoden werde damit steigen. Im Jahr 2019 wurden in polnischen Krankenhäusern nur rund 1100 Schwangerschaftsabbrüche ausgeführt – in 97 Prozent der Fälle aufgrund des nun für rechtswidrig erklärten Paragrafen. Die NGO Verband für Frauenrechte und Familienplanung geht davon aus, dass jedes Jahr 120’000 bis 150’000 polnische Frauen in Nachbarländer ausweichen, in denen es liberalere Gesetzgebungen gibt.
Die Regierung will keine Kompromisse
Die Regierung aber scheint weder zum Rückzug noch zu Kompromissen bereit zu sein: Zwar betonte Ministerpräsident Mateusz Morawiecki am Dienstag, Abtreibung sei weiterhin möglich «in allen Fällen von Schwangerschaft, in denen das Leben oder die Gesundheit der Frau bedroht ist». Die Regierung und das parteikontrollierte Staatsfernsehen TVP, wichtigstes Propagandainstrument der PIS vor allem auf dem Land, versuchen die Massenproteste derweil zu diskreditieren. «Akte der Aggression, Vandalismus und Angriffe» dürften nicht stattfinden, sagte Ministerpräsident Morawiecki am Dienstag. Er dankte der «schweigenden Mehrheit», die «Akte der Barbarei» verurteilen würde, so der Premier in Richtung der protestierenden Polinnen.
Der Justizminister Zbigniew Ziobro sekundierte mit Ankündigungen, Polens Staatsanwälte würden verstärkt gegen die angeblich «beispiellose Eskalation verbrecherischer Handlungen» gegen Gläubige eingesetzt. Von diesem Mittwoch an soll neben der Polizei einer Verordnung Morawieckis zufolge auch die Militärpolizei auf den Strassen Polens eingesetzt werden.
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