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Korruption und Proteste
Jetzt explodiert die Wut der Libanesen

«Hängt sie an den Galgen!»: Regierungskritiker werfen Steine, die Polizei setzt Tränengas ein. Für Samstag ist eine Grossdemonstration angekündigt.
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Mit jedem Tag, der nach der verheerenden Detonation im Hafen vergeht, mehren sich in der Hauptstadt des Libanon die Stimmen, die vor einer weiteren Explosion warnen – einer Explosion der Wut. Denn viele Bürger fühlen sich im Stich gelassen. In der Nacht zu Freitag kam es zu ersten Strassenprotesten gegen die Regierung und zu Zusammenstössen mit Sicherheitskräften. Die Demonstranten versuchten, die Absperrungen zum Parlament zu durchbrechen, und warfen mit Steinen. Die Polizei feuerte Tränengas und drängte die Menge zurück auf den Märtyrerplatz.

Für diesen Samstag gibt es Aufrufe zu einer Grossdemonstration gegen die als korrupt empfundene politische Elite. Damit hoffen Aktivisten, an die Dynamik der Proteste vom vergangenen Herbst anzuknüpfen, bei denen sie einen grundlegenden Wandel des am Proporz der 18 anerkannten Religionsgruppen orientierten politischen Systems gefordert hatten.

Alles zerstört: Angehörige des libanesischen Zivilschutzes suchen im Hafengelände nach Überlebenden.

Als Beleg für die Abgehobenheit der politischen Klasse werten viele Libanesen den Besuch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Während sich dieser am Donnerstag mit Bewohnern im grösstenteils zerstörten Viertel Gemmayzeh nahe des Hafens traf, Hände schüttelte und sich umarmen liess, machen sich die libanesischen Politiker weiter rar in den verwüsteten Stadtteilen. Macron forderte tief greifende Reformen und einen neuen politischen Pakt für den Libanon – was vielen Bürgern des Landes aus dem Herzen spricht, aber letztlich eine innere Angelegenheit des ehemaligen französischen Mandatsgebiets ist.

«Warum helfen unsere Soldaten nicht? Es kann doch nicht sein, dass sie jetzt die Bankfilialen schützen und Demonstranten verprügeln, aber keine Nothilfe leisten.»

Sarah Elzein, Architektin aus Beirut

In den Strassen räumen Freiwillige mit Besen, Schaufeln und Rechen, mit Handschuhen oder teils auch ohne den Schutt und die Glassplitter beiseite, unterstützt von libanesischen und auch einigen französischen Feuerwehrmännern, auch die Schweiz hat Angehörige des Korps für humanitäre Hilfe (SKH) nach Beirut entsandt. «Aber warum helfen unsere Soldaten nicht? Es kann doch nicht sein, dass sie jetzt die Bankfilialen schützen und Demonstranten verprügeln, aber keine Nothilfe leisten», sagt Sarah Elzein, als sie die Nachricht von den Zusammenstössen vor dem Parlament erhält.

Von der Wohnung bleibt nichts übrig

Elzein ist eine 40 Jahre alte Architektin, die in unmittelbarer Nähe zum Explosionsort lebt – «oder lebte, das trifft es besser», sagt sie. Während der Detonation war sie glücklicherweise bei Verwandten im Norden des Landes, in der Nacht zu Freitag ist sie nach Beirut gekommen, um das zu besichtigen, was von ihrer Wohnung übrig geblieben ist. «Nichts», fasst sie es in einem Wort zusammen.

Die Meldung, dass 16 Mitarbeiter der Zoll- und Hafenbehörden verhaftet und weitere unter Hausarrest gestellt wurden, weckt bei ihr und anderen im Viertel Gemmayzeh gemischte Gefühle. Einerseits fordern die Menschen vehement, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden sollen dafür, dass bald sieben Jahre lang 2750 Tonnen der explosionsgefährdeten Chemikalie Ammoniumnitrat in unmittelbarer Nähe zu Wohnvierteln in der Beiruter Innenstadt gelagert worden sind. Und Sarah Elzein sagt: «Die Hafenbehörde mag schuld sein – doch die Verantwortung für all das trägt die korrupte Clique.»

Präsident Aoun schliesst Anschlag nicht aus

Andererseits hat sie wie viele Libanesen kein Vertrauen in das Militärgericht, das die Katastrophe nun untersuchen soll. «Es gibt keine Institution mehr in diesem Land, die nicht irgendwie in die Korruption verstrickt ist», sagt sie – und fordert deshalb eine internationale Kommission, um die Schuldfrage zu klären. Der Präsidentenpalast erklärte am Freitag, es werde untersucht, ob es sich um Fahrlässigkeit bei der Lagerung des Materials, einen Unfall oder einen Eingriff von aussen handle – was laut Präsident Michel Aoun die Möglichkeit einer Rakete oder einer Bombe als Auslöser nicht ausschliesse.

Die Auffassung, dass die politische Elite des Libanon eine Mafia sei, die das Land systematisch ausraubt und die Bürger sich selbst überlässt, hört man in diesen Tagen überall in Beirut – selbst ein Armeeoffizier der Garde des Präsidenten Michel Aoun äussert dies laut und völlig unverhohlen mitten im Präsidentenpalast in Baabda. Dann rechnet er vor: Sein Gehalt, das 2019 noch 1500 Dollar entsprach, sei heute wegen der horrenden Inflation nur noch 200 Dollar wert. «Wie soll ich davon auch nur annähernd meine Familie durchbringen?», fragt er. Und auch die Aussagen von Frankreichs Präsident Macron im Gespräch mit der politischen Führung des Landes seien «sehr direkt» gewesen, sagte ein mit dem Inhalt vertrauter Diplomat.

Die Meinungen werden radikaler

Die Meinungen, welche Konsequenzen auf die Katastrophe folgen sollten, werden im Libanon schnell radikaler, das System wankt. «Sie alle sollen in Haft. Mindestens», sagt die Architektin Elzein vor den Trümmern ihres zerstörten Hauses. Die für Samstag angekündigte Protestkundgebung steht unter dem Motto «Hängt sie an den Galgen!»

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