Überlastetes AsylsystemItalien stoppt Rücknahme von Flüchtlingen – Schweiz ächzt noch mehr
Hunderte Geflüchtete können nicht ausgeschafft werden, weil Italien plötzlich Rücknahmen verweigert. Je länger der Stopp dauert, desto grösser wird das Problem für die Schweiz.
Die Schweiz gehört zu den Profiteuren des sogenannten Dublin-Abkommens. Sie kann deutlich mehr Geflüchtete an andere europäische Staaten abgeben, als sie von dort aufnehmen muss. Am einseitigsten ist das Verhältnis mit Italien.
Doch davon hat die neue rechte Regierung in Rom nun genug. Wie über Weihnachten bekannt wurde, hat sie bereits am 5. Dezember die Übernahme von Dublin-Fällen gestoppt. Damit gemeint sind Geflüchtete, die zwar in der Schweiz einen Asylantrag gestellt haben, für die aber nach den Regeln des europäischen Flüchtlingsabkommens Italien zuständig ist. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) bestätigte gegenüber der «NZZ am Sonntag», dass es von Italien über den Stopp informiert wurde. Zurzeit könne die Schweiz darum 184 Personen nicht nach Italien ausschaffen.
Weiterhin akzeptiert werden Übernahmen im Rahmen eines bilateralen Abkommens zwischen der Schweiz und Italien. Dieses betrifft insbesondere Personen, die von den Schweizer Behörden in Grenznähe aufgegriffen werden und keinen Asylantrag stellen.
Deutschland erwartet langen Unterbruch
Italien hat alle Teilnehmerstaaten des Dublin-Abkommens über den Stopp informiert. Der deutschen Zeitung «Welt am Sonntag» liegt das Schreiben aus Rom vor. Demnach macht Italien «plötzlich aufgetauchte technische Gründe, die mit fehlenden Aufnahmekapazitäten zusammenhängen», geltend. In Italien kommen jüngst wieder viele Bootsflüchtlinge an. Die meisten wollen nicht in Italien bleiben, sondern ziehen weiter nach Norden – vor allem nach Deutschland und Frankreich. Auch die Schweiz ist oft nur Transitland. Mit der Begründung «fehlende Kapazitäten» haben in diesem Frühjahr bereits Polen und weitere mitteleuropäische Staaten die Rücknahme von Dublin-Fällen für mehrere Monate gestoppt. Dies, nachdem sie innert kürzester Zeit Hunderttausende Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen hatten.
Der italienische Stopp ist laut dem Schreiben «zeitlich befristet». Ein konkretes Datum für dessen Ende nenne Rom aber nicht, sagt SEM-Sprecher Reto Kormann auf Nachfrage. Das SEM erwarte, dass der Stopp «nach der Weihnachtspause» wieder aufgehoben werde. Diese Erwartung hätten auch andere Dublin-Staaten. In Deutschland bereitet man sich derweil auf einen längeren Unterbruch vor. Dort hat die Fluggesellschaft Lufthansa laut der «Welt am Sonntag» Mitte Dezember entschieden, dass Rückschaffungen auf Flügen nach Italien bis Ende März ausgesetzt werden.
Der Stopp erfolge zu einem ungünstigen Zeitpunkt, sagt Florian Düblin, Generalsekretär der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren. Die kantonalen Asylstrukturen seien bereits stark belastet. Die Zentren des Bundes sind ebenfalls voll. Denn die Zahl der Asylgesuche in der Schweiz ist zuletzt stark gestiegen.
Der Bundesrat hat deshalb Mitte Dezember beschlossen, dass mit Unterstützung der Armee 2700 zusätzliche Unterbringungsplätze geschaffen werden. Wie das SEM hofft auch Florian Düblin, dass Italien möglichst rasch wieder Dublin-Fälle zurücknimmt. «Je länger der Stopp dauert, desto grösser wird das Problem für die Schweiz», sagt Düblin.
Bleiben Geflüchtete in der Schweiz?
Ein längerer Rücknahmestopp könnte zur Folge haben, dass italienische Dublin-Fälle in der Schweiz bleiben. Denn das Abkommen sieht eine Frist von sechs Monaten für die Überstellung vor. Ist die Überstellung in dieser Zeit nicht durchgeführt worden, wird grundsätzlich jener Staat zuständig, der sie verlangt hat. Laut SEM läuft die Frist trotz des Stopps weiter.
Im umgekehrten Fall hat Deutschland bereits diese Erfahrung machen müssen. Nach Ausbruch der Pandemie stoppte Berlin vorübergehend Rückführungen in Dublin-Staaten und informierte die betroffenen Geflüchteten darüber, dass die Sechsmonatsfrist bis zur Wiederaufnahme angehalten sei. Dagegen klagten Betroffene mithilfe mehrerer Nichtregierungsorganisationen erfolgreich beim Europäischen Gerichtshof.
Schon vor dem Stopp stockten die Dublin-Rückführungen nach Italien. Gemäss der Statistik des SEM hat Italien in diesem Jahr bis Ende November zwar 1031 Rückführungen zugestimmt, überstellt wurden aber nur 318 Personen. Das entspricht einer Quote von 31 Prozent. Zum Vergleich: Deutschland hat im gleichen Zeitraum rund 60 Prozent seiner Fälle (382 von 639) zurückgenommen.
Gemäss SEM-Sprecher Kormann sind die Rücknahmekapazitäten Italiens beschränkt. Verstärkt werde dies in letzter Zeit durch die Ankunft vieler unbegleiteter Minderjähriger. Bei ihnen sei der Aufwand grösser als bei erwachsenen Geflüchteten.
Hinweis: Dieser Artikel wurde nach der Publikation aktualisiert. Das SEM konnte die Frage, ob die Sechsmonatsfrist für die Überstellung von Dublin-Fällen trotz des italienischen Stopps weiterläuft, erst am Dienstagmorgen beantworten. (Dienstag, 27. Dezember 2022, 10:55 Uhr)
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