Militäroffensive gegen HamasNetanyahu trommelt für die Rafah-Offensive – allen Warnungen zum Trotz
Israels Regierungschef will auch mittels der Offensive gegen die Hamas-Hochburg die Terrorgruppe zerstören. Ob die Militäraktion wirklich kommt, ist aber unklar. Der Premier hat längst auch andere Ziele.
Rafah ist hart umkämpft. In der Auseinandersetzung um die letzte Hochburg der Hamas im südlichen Gazastreifen geht es jedoch nicht nur um die vermeintliche Entscheidungsschlacht zwischen israelischen Truppen und der palästinensischen Terrormiliz. Rund um Rafah toben derzeit vor allem auch heftige Wortgefechte zwischen Israel und den USA. Die Führungen in Washington und Jerusalem scheinen in der Rafah-Frage inzwischen auf zwei Seiten einer Front zu stehen. Das hat nicht nur militärische und humanitäre, sondern in beiden Lagern auch innenpolitische Gründe.
Warnungen aus Washington vor einer gross angelegten israelischen Militäraktion ertönen derzeit in schneller Folge und von höchsten Stellen. US-Präsident Joe Biden, der sich im aufziehenden Wahlkampf harter Kritik wegen seiner Nahostpolitik ausgesetzt sieht, hatte bereits Anfang März eine «rote Linie» um Rafah gezogen. Er verwies auf die unüberschaubaren Gefahren für 1,5 Millionen Menschen, die dort Schutz suchen.
Ende voriger Woche malte US-Aussenminister Antony Blinken bei einem Besuch in Israel die Risiken weiter aus. Abgesehen von zivilen Opfern und neuen Hürden für die Versorgung der hungernden Bevölkerung, würde Israel mit einer Rafah-Offensive «Gefahr laufen, in der Welt noch weiter isoliert zu werden und langfristig seine Sicherheit und sein Ansehen zu gefährden». In einem TV-Interview legte Vizepräsidentin Kamala Harris am Sonntag noch einmal nach: «Jede grössere Militäraktion in Rafah wäre ein gewaltiger Fehler», sagte sie. Auf die Frage, ob ein solches Vorgehen Konsequenzen haben könnte für Israel, erklärte sie trocken: «Ich schliesse nichts aus.»
Das lässt reichlich Raum für Fantasien darüber, wie die Amerikaner gegebenenfalls ihren engsten nahöstlichen Verbündeten zur Räson bringen könnten. Spekuliert werden darf über die enormen Waffen- und Munitionslieferungen, ohne die Israel diesen Krieg nicht führen könnte. Oder über den diplomatischen Schild, mit dem die USA als Vetomacht Israel bislang bei den Vereinten Nationen stets Schutz gewährt haben vor Verurteilungen. Am Montag verzichteten die Amerikaner im UNO-Sicherheitsrat auf ihr Veto und liessen erstmals eine Resolution passieren, die einen sofortigen Waffenstillstand im Gazastreifen forderte.
Das amerikanische Drohpotenzial ist also gewaltig. Beeindruckt aber zeigt sich Israels Premierminister Benjamin Netanyahu bislang nicht. Ganz im Gegenteil. Jede amerikanische Warnung kontert er mit einer Demonstration der Entschlossenheit. Kaum hatte Blinken am Freitag israelischen Boden verlassen, rief ihm Netanyahu hinterher, dass er sich eine US-Unterstützung für eine Rafah-Operation wünschen würde: «Aber wenn nötig, machen wir es allein.» Kamala Harris belehrte er postwendend: «Wir werden nach Rafah hineingehen und den absoluten Sieg erringen.»
In der Praxis allerdings ist eine gross angelegte Militäroperation in Rafah vermutlich weiter entfernt, als es Netanyahus Rhetorik verheisst. Denn jenseits der starken Worte hat der Premier auch fest zugesagt, dass vor Eröffnung der heissen Kampfphase ein sicherer Ausweg für die Zivilbevölkerung gefunden werden müsse. Details dazu sind bislang nicht bekannt geworden. Fraglich ist, wohin so viele Menschen im kriegsverwüsteten Gazastreifen gebracht werden könnten – und wie es Israel verhindern will, dass sich auch Hamas-Kämpfer in grosser Zahl daruntermischen.
All das dürfte in jedem Fall viel Zeit in Anspruch nehmen. Überdies müsste Israel im sechsten Kriegsmonat seine inzwischen ausgedünnten Truppen im Gazastreifen wohl wieder deutlich aufstocken. Eine grosse Rafah-Offensive noch vor Ende des Ramadan am 9. April scheint damit ausgeschlossen zu sein. Und bis dahin könnten auch die Verhandlungen um eine Freilassung der Geiseln und eine damit verbundene längere Waffenruhe zu einem Ergebnis kommen, mit dem der Einsatz weiter aufgeschoben wird.
Israel droht in einen endlosen Guerillakrieg verstrickt zu werden
Zudem verliert Netanyahus Argument, dass mit der Einnahme Rafahs der «absolute Sieg» gesichert werde, stetig an Überzeugungskraft. Denn der bisherige Kriegsverlauf zeigt, dass auch in jenen Gebieten, in denen Israels Armee längst schon den Sieg über die Hamas erklärt hat, keine Ruhe einkehrt. Zeugnis davon geben die seit Tagen erneut tobenden Kämpfe rund um das Shifa-Spital in Gaza-Stadt ab. Dort hatten Israels Truppen nach eigenem Bekunden doch eigentlich schon vor vielen Wochen die komplette Kontrolle übernommen. Die Schlussfolgerung: Mit oder ohne Rafah-Operation droht Israel im Gazastreifen in einen schier endlosen Guerillakrieg verstrickt zu werden.
Aus all diesen Gründen also legen die USA den Israelis dringend nahe, auf den Einmarsch in Rafah zu verzichten. Ins selbe Horn blasen auch andere westliche Verbündete. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron warnte Netanyahu bei einem Telefonat am Sonntag, dass jeder erzwungene Transfer der Bevölkerung aus Rafah «ein Kriegsverbrechen» sei. Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock, die am Montag auf ihrer sechsten Nahostreise seit dem Terrorüberfall der Hamas am 7. Oktober in Israel eintraf, fürchtet als Ergebnis einer «grossflächigen Offensive» nur «neuen Hass», womit «ein Frieden in die Ferne gerückt» werde.
Angesichts des wachsenden Drucks hatte Netanyahu immerhin zugesagt, in dieser Woche gleich zwei hochrangige Delegationen nach Washington zu entsenden, um über den Fortgang im Gazakrieg zu verhandeln. Den Besuch einer dieser Delegationen sagte er aber am Montag aus Ärger über die Stimmenthaltung der USA im UNO-Sicherheitsrat wieder ab.
Vermutlich hat der Premier in Rafah aber auch längst anderes im Blick als nur das Militärische. Er will sich mit seiner Rhetorik den Israelis als entschlossener Feldherr präsentieren. Wenn dann am Ende der «absolute Sieg» ausbleibt, weil ihm ihn Rafah die Hände gebunden wurden, kann er die Schuldigen dafür präsentieren: den US-Präsidenten oder auch den von Biden hofierten innenpolitischen Konkurrenten Benny Gantz.
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