Hungersnot im GazastreifenPolitisch hat Israel den Krieg bereits verloren
Die Kritik aus dem Weissen Haus wird lauter. Trotzdem hält Premier Netanyahu am Ziel fest, die Hamas auszulöschen. Selbst wenn Israel militärisch noch gewinnen sollte – politisch ist das kaum mehr möglich.
Als Benjamin Netanyahu die Israelis am Abend des 7. Oktober zu den Waffen rief, gab der Premierminister die Kriegsziele aus. Nach dem verheerenden Terrorangriff der Hamas auf die Kibbuzim und Städte im Süden des Landes erklärte er, Israel werde die Anführer der Gruppe töten, die Organisation samt ihrer militärischen und politischen Infrastruktur vernichten und die 253 nach Gaza verschleppten Geiseln befreien. Fünf Monate später können der israelische Regierungschef und seine Armee nur militärische Teilerfolge und den Austausch von 100 Geiseln gegen rund 1000 palästinensische Gefangene vorweisen.
Diese Erfolge mögen beachtlich sein. Aber der von Netanyahu versprochene Sieg sind sie noch lange nicht. Und selbst wenn Israel den Kampf am Ende noch gewinnen sollte – politisch hat das Land den Krieg gegen die Hamas schon fast verloren, denn sein internationales Ansehen sinkt rapide.
Stimmung in der Bevölkerung hilft Netanyahu
Wegen der enormen Opferzahlen bei den palästinensischen Zivilisten wird das Land von allen Seiten kritisiert. Nichts macht das von Netanyahu und seiner zerstrittenen Koalitionsregierung angerichtete Desaster deutlicher als das jüngste Machtwort von US-Präsident Joe Biden.
Der Amerikaner untersagte dem Israeli einen für den Fastenmonat Ramadan geplanten Grossangriff auf Rafah, die letzte noch nicht umfassend attackierte Palästinenserstadt im Gazastreifen. Biden zog öffentlich «eine rote Linie». Er stellte klar, dass er angesichts der drohenden Hungersnot eine Feuerpause will. Ohne Anflug diplomatischer Zurückhaltung sagte der US-Präsident über den ihm herzlich unsympathischen Netanyahu: «In meinen Augen schadet er Israel mehr, als dass er Israel hilft.» (Lesen Sie hier unseren Kommentar zu Bidens Auftritt.)
Von all dem zeigt Netanyahu sich bislang wenig beeindruckt. Der Israeli nutzt die Verwerfungen in seiner Koalitionsregierung, um sein politisches Überleben zu sichern. Er weiss, dass die Stimmung in der Bevölkerung ihm hilft. Die meisten Israelis halten den Krieg gegen die Hamas für nötig und für richtig – ganz egal, ob sie Netanyahu mögen oder nicht. Sie geben seit dem Grauen des 7. Oktober nicht mehr viel auf das Leid der Palästinenser. Sie wollen die Hamas zerschlagen sehen.
Israel: 13’000 Hamas-Kämpfer getötet
So weist der Krieg gegen die Hamas bislang eine gemischte Bilanz auf. Israel kann ihn noch gewinnen, denn Sieg ist ein dehnbarer Begriff. Das wird Netanyahu zu nutzen wissen. Im Norden des Palästinensergebietes scheinen die Hamas-Truppen weitgehend zerschlagen worden zu sein, im Süden haben sie schwer gelitten. Ob und wie schnell die Militanten sich im Norden neu gruppieren könnten, bleibt unklar. Nach israelischen Angaben wurden bisher 13’000 Hamas-Kämpfer getötet. Zahllose Tunnel, Raketenwerfer und Kommandozentralen sind zerstört, in Städten wie Tel Aviv oder Ashqelon gibt es nur noch selten Luftalarm.
Sollte der Krieg weitere Monate auf diese rücksichtslose Weise geführt werden, könnte irgendwann wohl ein Sieg proklamiert werden. Dem steht aber zunehmend die verheerende Bilanz palästinensischer Opfer im Weg. Mehr als 31’000 Palästinenser sind gemäss Hamas-Zahlen tot. Zwei Drittel der zivilen Opfer sollen Frauen und Kinder sein. Auch wenn die Opferzahlen von der palästinensischen Gesundheitsbehörde stammen, dürften sie stimmen. Und da inzwischen eine Hungersnot in Gaza droht, könnten die Zahlen sehr schnell explodieren.
Bomben und Lebensmittel – beides made in USA
Das dürfte das internationale Ansehen Israels dann vollends ruinieren und es Partnerstaaten wie den USA erschweren, Israel weiter den Rücken zu stärken und Waffen zu liefern. Noch mögen die USA Israel trotz aller Kritik stützen. Aber wenn die «New York Times» jetzt mitten im beginnenden US-Wahlkampf schreibt, dass «vom Himmel über Gaza amerikanische Bomben und amerikanische Lebensmittelpakete gleichzeitig fallen», dann wird es schwierig für den bei der US-Wahl im November wieder antretenden Biden.
Der vom Präsidenten angekündigte künstliche Hafen, mit dem die Palästinenser per Schiff versorgt werden sollen, dient daher nicht nur den hungernden Menschen in Gaza. Mindestens so wichtig dürfte es Biden sein, seine Wähler unter den US-Muslimen zufriedenzustellen. Auch die Europäer müssen handeln. Sie wollen nun auch bei der neu konzipierten Gaza-Hilfe mit einem «Seekorridor» an Netanyahu vorbei mitmischen.
Der israelische Premier, der durch all diese Hilfsinitiativen von aussen unter Druck gerät, gibt bereits vor, er habe Bidens Idee eines künstlichen Hafens persönlich mit auf den Weg gebracht. Das kann kaum stimmen: Israel führt diesen Krieg von Anbeginn ohne jede Rücksicht auf die palästinensischen Zivilisten. Regierung und Armee meinen offenbar, sie könnten die Menschen mit immer grösserem Leid dazu bringen, endlich gegen die im Untergrund weiter agierende Hamas zu rebellieren.
Hungerkatastrophe bedroht auch Netanyahu
Ob Netanyahu den Krieg bei einer solchen immer stärker werdenden Einmischung von aussen noch nach seinen eigenen Vorstellungen zu Ende bringen kann, ist fraglich. Sollte die von der UNO und NGOs vorhergesagte Hungerkatastrophe ausbrechen, werden die USA und Europa sich noch viel stärker engagieren müssen: Die Weltöffentlichkeit wird sie angesichts der Bilder verhungernder Palästinenserkinder dazu zwingen.
Dann wird es für Israel immer schwieriger werden, diesen Krieg zu führen. Und dann könnte am Ende die Hamas als Sieger aus dem Konflikt hervorgehen. Denn auch in Gaza gilt die Regel des Guerillakriegs: Die Hamas hat schon gewonnen, wenn sie nicht unterliegt – Israel aber muss wirklich siegen.
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