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Israelische Geiseln
Netanyahu spielt auf Zeit

epa11074627 Supporters and families hold pictures of hostages held by Hamas in Gaza as they take part in a '100 Days of Hell' rally calling for their immediate release and marking the upcoming 100th day of their captivity in Gaza, outside the Kirya military base in Tel Aviv, Israel, 13 January 2024. According to the Israeli government, 136 Israelis are still being held hostage by Hamas in the Gaza Strip. According to organizers, some 120,000 people attended the rally to mark the upcoming one-hundredth day, on 14 January 2024, since the 07 October Hamas attack on Israel. More than 23,600 Palestinians and at least 1,300 Israelis have been killed, according to the Palestinian Health Ministry and the Israel Defense Forces (IDF), since Hamas militants launched an attack against Israel from the Gaza Strip on 07 October, and the Israeli operations in Gaza and the West Bank which followed it.  EPA/ABIR SULTAN
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Weltweit sind die Familien der israelischen Geiseln unterwegs, um Druck zu machen für die Freilassung ihrer Angehörigen, die von der Hamas am 7. Oktober in den Gazastreifen verschleppt wurden. US-Präsident Joe Biden hat ihnen gerade wieder versichert: «Wir stehen an eurer Seite.» Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sie zu Wochenbeginn in Berlin empfangen. Sogar bei den Vermittlern in Katar haben sie schon vorgesprochen. Nur zu Hause, da häufen sich die schlechten Nachrichten.

In einem neuen Video, das von der Hamas verbreitet wurde, ist die 26-jährige Noa Argamani zu sehen – und mutmasslich die Leichen zweier anderer, männlicher Geiseln. Sie seien bei israelischen Angriffen getötet worden, erklärt Argamani, sie selbst sei dabei verletzt worden. «Stoppt diesen Wahnsinn», ruft sie, «bringt uns zu unseren Familien zurück, solange wir noch leben.»

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Israels Armeesprecher hat gleich reagiert. «Das ist eine Lüge der Hamas», sagte er. «Wir greifen einen Ort nicht an, wenn wir wissen, dass sich dort Geiseln befinden könnten.» Aber jeder weiss auch, dass sich das nur selten abschätzen lässt, und so bringt ein solches Video die Militärplaner gezielt in Bedrängnis. Schliesslich bangt die ganze Nation mit den immer noch mehr als 130 in Gaza festgehaltenen Geiseln. Mindestens 25 von ihnen sollen nach israelischen Geheimdienstinformationen bereits tot sein. Und zum Psychokrieg der Hamas zählt auch, dass sie angeblich selbst keine Informationen mehr hat über den Verbleib vieler Verschleppter.

Andere Ausgangslage als im November

Eine Verhandlungslösung rückt dabei angesichts des Kriegsgeschehens in immer weitere Ferne. Die Ausgangslage ist eine andere als Ende November, als während einer siebentägigen Feuerpause 105 Geiseln, zumeist Frauen und Kinder, im Austausch gegen 240 palästinensische Häftlinge freikamen. Heute verlangt die Hamas einen viel höheren Preis – und dass Israels Regierung dies kaum zu zahlen bereit sein wird, hat mit einer komplexen Gemengelage aus militärischen und innenpolitischen Gründen zu tun.

Die Verhandlungskanäle sind zwar noch nicht komplett geschlossen. Katar und Ägypten bemühen sich mit Unterstützung der USA um eine Lösung. Aber mehr als vage Ideensammlungen gibt es derzeit offenbar nicht. Allein ein kleiner Erfolg konnte Ende voriger Woche vermeldet werden: Israel und die Hamas einigten sich darauf, den Geiseln Medikamente zukommen zu lassen, im Gegenzug für eine erhöhte Lieferung von Arzneimitteln für die Bevölkerung im Gazastreifen. Die Umsetzung bleibt noch abzuwarten.

Hamas beharrt auf Maximalforderungen

Für alles Weitere aber beharrt die Hamas auf Maximalforderungen. Für die Freilassung der Geiseln verlangt sie – unter der Formel «alle gegen alle» – nicht nur die Entlassung Tausender palästinensischer Häftlinge aus israelischen Gefängnissen. Ein solcher schrittweiser Austausch soll auch mit einer langfristigen Einstellung der Kampfhandlungen verbunden sein, de facto einem Kriegsende, das ihr das Überleben und vermutlich auch die Kontrolle über Gaza sichern würde.

Für Israels politische und militärische Führung ist das erklärtermassen unannehmbar. Es wäre – nach der blutrünstigen Demütigung vom 7. Oktober – ein weiterer Sieg für die Hamas. Israels Antwort: ein Mantra, das zwei Kriegsziele verknüpft. Die Hamas soll vernichtet und dabei die Freilassung oder Befreiung der Geiseln erzwungen werden. «Ohne militärischen Druck wird keiner mit uns verhandeln», sagt dazu Verteidigungsminister Yoav Gallant.

Kämpfe gefährden Geiseln

In der Praxis jedoch wird immer deutlicher, dass diese beiden Ziele im Widerstreit stehen. Die akute Gefährdung der Geiseln durch die Kämpfe wird mit jeder neuen Todesmeldung sichtbar. Die erklärte Vernichtung der Hamas dürfte zudem deren Anführer eher davon abhalten, auch noch ihre letzten Faustpfänder aus der Hand zu geben. Die propagierte Doppellösung ist also in Wirklichkeit ein Dilemma.

Gestellt hat sich diesem Dilemma in Israels Führung bisher nur einer: Benny Gantz, der frühere Verteidigungsminister, der nach dem 7. Oktober von der Opposition aus ins dreiköpfige Kriegskabinett gewechselt war. Er spricht sich für eine Entkopplung der beiden Kriegsziele aus, mit eindeutiger Priorisierung der Geiselfrage.

Netanyahu kämpft um politisches Überleben

Zu den dahinterstehenden Überlegungen könnte die Einsicht zählen, dass die Kriegsführung in eine Zerstörungsspirale geraten ist, ohne dem Ziel der Hamas-Vernichtung auf absehbare Zeit näherzukommen. Das Ziel der Geiselbefreiung dagegen wäre vermutlich durch Verhandlungen erreichbar. Premierminister Benjamin Netanyahu allerdings dürfte auf diesem Weg in eine Zwickmühle geraten. Denn alle Zugeständnisse an die Hamas würden von dessen rechtsextremen Koalitionspartnern abgelehnt werden. Dies könnte zum Kollaps der Regierung führen. Neuwahlen wären die Folge, in die Gantz allen Umfragen zufolge mit einiger Siegesgewissheit ziehen könnte.

Auch in der Geiselfrage also kämpft Netanyahu zugleich ums politische Überleben. Er spielt auf Zeit, auch wenn für die Geiseln und ihre Angehörigen die Zeit knapp ist. Was das bedeutet, weiss in Israel niemand besser als Gilad Shalit, der als junger Soldat von 2011 bis 2016 fünf Jahre lang von der Hamas im Gazastreifen gefangen gehalten worden war.

Shalit hat sich nun Berichten israelischer Medien zufolge erstmals mit Angehörigen der Geiseln getroffen. Seine Botschaft: Auch lange Jahre in der Hölle könne man überstehen und danach ins Leben zurückfinden. Ist das ein Trost? Oder die Aussicht auf einen jahrelangen Albtraum?