100 Tage Krieg in NahostBringt sie heim – «jetzt, jetzt, jetzt»
Seit mehr als drei Monaten herrscht Krieg zwischen Israel und der Hamas-Miliz im Gazastreifen. In Tel Aviv fordern 120’000 Menschen die Freilassung der Geiseln – und protestieren damit auch gegen die eigene Regierung.
Hinten schwillt der Chor schon an: «Achschav, achschav, achschav», ruft von der Bühne aus ein Mann ins Mikrofon. Bringt sie heim – «jetzt, jetzt, jetzt», stimmen die Ersten in der Menge ein. Ein wütender, mehr noch verzweifelter Schlachtruf ist das, um Freiheit zu fordern, für die von der Hamas in den Gazastreifen verschleppten israelischen Geiseln. Und ganz am Rand, still in all dem Trubel, sitzt Esther Buchshtab mit ihrem Mann Oren, die seit 100 unendlich langen Tagen nun schon auf die Heimkehr ihres Sohnes Yagev warten. Wie einsam kann man sein unter 120’000 Menschen?
Seit 100 Tagen tobt an diesem Sonntag schon der Krieg um Gaza, der den palästinensischen Küstenstreifen in weiten Teilen in eine Trümmerlandschaft verwandelt und bereits mehr als 23’000 Tote gefordert hat. Und seit 100 Tagen sind die Buchshtabs in einem Albtraum gefangen. Am 7. Oktober, als die Terrortrupps der Hamas in Israel 1200 Menschen massakrierten und ungefähr 240 weitere in den Gazastreifen verschleppten, wurde ihnen der 36-jährige Sohn Yagev entrissen, zusammen mit seiner Frau Rimon.
Niemand von der israelischen Regierung spricht auf der Demonstration
Ende November hatte diese Zeitung schon einmal über das quälende Warten der Familie aus dem Kibbuz Nirim berichtet, da währte es gerade 50 Tage. Kurz danach kam Rimon frei, die Schwiegertochter, in einem von Katar vermittelten Austausch. Das war Freude, da gab es Hoffnung. Doch seitdem? «Nichts Neues», sagt Esther Buchshtab und atmet durch. «Eigentlich war ich überzeugt davon, dass es schneller geht.»
Niemals wird sie sich unterkriegen lassen. Sie kämpft weiter, und erst vor wenigen Tagen ist sie mit einer Gruppe von Angehörigen zum Grenzzaun nach Gaza gefahren. Mit einem Lautsprecher in der Hand hat sie ins ferne Nichts hineingesprochen, hat sich direkt an Yagev gerichtet, hat ihm gesagt, dass sie ihn liebt, ohne auf Antwort hoffen zu können. «Das war sehr schwer», sagt sie.
Aber irgendeiner muss sie doch hören, wenn nicht in Gaza, dann doch zumindest in Tel Aviv. Damit die Geiseln nicht vergessen werden, während der Krieg sich festfrisst, will sie zusammen mit den anderen aus dem «Familien-Forum», in dem sich Angehörige und Unterstützer zusammengeschlossen haben, nun noch einmal den Druck erhöhen. Am Tag 100, vom Samstag- bis zum Sonntagabend, haben sie zu einer 24-stündigen Dauerdemonstration auf dem Platz vor dem Tel Aviver Kunstmuseum aufgerufen, der jetzt «Platz der Entführten» heisst. Rund um die Uhr treten Künstler auf, und es werden Reden gehalten.
In diesen Reden berichten die Angehörigen emotional und ergreifend von jedem einzelnen Schicksal, vom Elend, von der Gefahr, von den Ängsten. Auch Unterstützer aus dem Ausland kommen zu Wort wie Jack Lew, der US-Botschafter in Israel. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wird per Video-Botschaft zugeschaltet und verspricht, man lasse die Geiseln nicht im Stich, Verhandlungen über ihre Freilassung müssten wieder aufgenommen werden. Aus der israelischen Regierung spricht niemand. Allein Benny Gantz, Mitglied im dreiköpfigen Kriegskabinett, wird mitten in der Menge gesichtet.
Es sollen noch 136 Geiseln in den Händen der Hamas sein – 25 davon wohl schon tot
Das Familien-Forum hat beim Protestaufruf eindringlich die Regierung aufgerufen, alles andere, also die gesamte Kriegsstrategie, sofort einer Freilassung der Geiseln unterzuordnen. Den zermürbenden Stillstand möchten sie aufbrechen, der seit sieben Wochen herrscht – seit während einer kurzen Waffenpause 105 Geiseln, zumeist Frauen und Kinder, gegen 240 palästinensische Häftlinge ausgetauscht worden waren. Nach israelischer Zählung befinden sich seither noch immer 136 Geiseln in den Händen der Hamas, mindestens 25 davon sollen schon nicht mehr am Leben sein.
Dringlich also ist die Freilassung, jeder Tag kann den Tod von noch mehr Geiseln bringen, und so werden auch die Mittel des Protests drastischer. Auf dem Platz der Entführten steht nun der Nachbau eines Tunnels, wie ihn die Hamas unter dem Gazastreifen gegraben hat. Vermutet wird, dass in diesem unterirdischen Netzwerk auch die meisten Geiseln festgehalten werden, als menschliche Schutzschilde für die dort verschanzten Hamas-Anführer.
Esther Buchshtab steht am Eingang des Tunnel-Nachbaus in Tel Aviv mit dem Bild ihres Sohnes Yagev, der von der Hamas in den Gazastreifen verschleppt wurde.
Rund 30 Meter ist der Tel Aviver Tunnel lang, vor dem Eingang bilden sich lange Schlangen. Wer hineingeht, spürt die Enge und Beklemmung. Aus Lautsprechern dröhnt der Lärm von Explosion, vermischt mit dem Stampfen von Stiefeln. Stifte werden verteilt, mit denen Botschaften auf die Tunnelwand geschrieben werden: «Itay, wir warten auf dich zu Hause», «Unser Herz ist in Gaza», «Wir werden wieder tanzen».
All die Aufrufe und Aktionen haben zuvörderst einen Adressaten: Premierminister Benjamin Netanyahu. Als sich die Demonstranten formieren auf dem Platz der Entführten, wendet er sich direkt gegenüber im Hauptquartier der Armee ans Volk. «Wir werden den Krieg bis zum Ende fortsetzen, bis zum vollständigen Sieg, bis wir alle unsere Ziele erreicht haben», sagt er in einer Pressekonferenz. Natürlich verspricht er auch die Befreiung der Geiseln, doch noch davor steht in seiner Aufzählung ein anderes Kriegsziel: die Vernichtung der Hamas.
Der Krieg ist furchtbar unübersichtlich geworden – kein Ende in Sicht
In diesem Krieg ist damit nach 100 Tagen kein Ende in Sicht – ungeachtet der Gefahr für die Geiseln, trotz der verheerenden Lage der Zivilbevölkerung in Gaza, und trotz der Dynamik in Richtung einer regionalen Ausweitung. Im Norden drohen seit Langem schon die Kämpfe mit der libanesischen Hisbollah-Miliz zu eskalieren. Nun aber hat sich auch noch die Situation in Jemen zugespitzt. Als Reaktion auf Angriffe auf den Schiffsverkehr im Roten Meer traf die Huthi-Rebellen in der Nacht zum Samstag ein zweiter Angriff amerikanischer Kampfjets. Jetzt schwören sie Rache an Israel. (Lesen Sie hier, wie gefährlich die Huthi-Rebellen sind)
Furchtbar unübersichtlich geworden ist das Schlachtfeld, Gefahren überall, und mittendrin die dröhnende Stille in der Geiselfrage, gegen die sie hier in Tel Aviv an diesem Wochenende ankämpfen wollen. Die Angehörigen und ein harter Kern der Unterstützer haben die ganze Nacht über auf dem Platz der Entführten ausgeharrt, trotz des kalten Regens, der am späten Abend eingesetzt hat. Im Laufe des Sonntags wird es fast wieder genauso voll wie am Tag zuvor. Der mächtige Gewerkschaftsdachverband Histadrut hat seine Mitglieder mobilisiert und zum Solidaritätsstreik mit den Geisel-Familien hierher gerufen.
Früh um acht Uhr schon steht Esther Buchshtab auf der Bühne. Schlaf hat sie keinen gefunden, sie spricht nun von der «Hölle», von der «Dunkelheit», der ihr Sohn Yagev in Gaza ausgesetzt sei. Sie wendet sich an «alle Nationen der Welt», die bei einer Verhandlungslösung für die Geiseln helfen sollen. Und sie spricht direkt ihre eigene Regierung an. «Ein moralischer Staat muss Verantwortung zeigen für den Schutz seiner Bürger», sagt sie mit fester Stimme, und ihr letzter Satz ist ein Versprechen: «Wir, die Familien, werden nicht ruhen, bis alle Entführten zurückgekommen sind.»
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