Israel im Krieg gegen HamasGaza-Bewohner: «Wir sind alle krank vor Angst»
10’000 Angriffe in drei Wochen Krieg: Der Gazastreifen steht unter israelischem Dauerbeschuss. Dort sucht die Zivilbevölkerung vergeblich Schutz.
Die morgendlichen Bulletins sind sachlich und nüchtern, zahlen- und zielorientiert: «Mehr als 250 militärische Ziele der Hamas-Terrororganisation im Gazastreifen» seien in den vergangenen 24 Stunden bombardiert worden, heisst es am Freitag in den Kommunikationskanälen der israelischen Armee.
Ziel seien Kommandozentralen, Raketenabschussrampen und Tunnelanlagen gewesen. Angereichert sind die offiziellen Verlautbarungen oft mit Videos, die präzise Luftschläge zeigen. Aus dieser Perspektive – von hoch oben aus dem Kampfflugzeug oder aus den Kommandozentralen – ist dieser Krieg ein Handwerk. Unten am Boden ist er eine Katastrophe.
8000 Raketen der Hamas bis ins israelische Kernland
Drei Wochen nach dem Terrorüberfall der Hamas auf Israel mit 1400 Toten hat sich der Krieg festgefressen rund um Gaza. Seit 21 Tagen schon bombardiert die israelische Luftwaffe den palästinensischen Küstenstreifen mit unvergleichbarer Wucht. Israelische Medien sprechen von bis zu 10’000 Angriffen bislang. In die Gegenrichtung hat die Hamas bislang rund 8000 Raketen abgefeuert, bis weit hinein ins israelische Kernland.
Am Freitag wurde wieder ein Haus in Tel Aviv getroffen, es gab Verletzte. Weit mehr israelische Luftschläge und Hamas-Raketen sind das schon jetzt als im Krieg von 2014, und der hat 50 Tage gedauert. Aber dieses Mal geht es nicht darum, der Hamas eine abschreckende Lektion zu erteilen. Diesmal geht es um alles: «Wir oder sie» – so hat es Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant am Donnerstagabend in einer Fernsehansprache zugespitzt.
Eine Trennung zwischen militärischen und zivilen Zielen ist fast nicht möglich.
Die Zerstörung der Hamas ist das erklärte Kriegsziel – und das verlangt kompromisslose Härte, bei den Angriffen aus der Luft und aller Voraussicht nach in Bälde auch am Boden. Diese Härte, so betont es Israels Armeeführung immer wieder, richte sich allein gegen die Infrastruktur der in Gaza herrschenden Terrororganisation. Die Zivilbevölkerung solle so weit wie möglich verschont werden.
Als Beleg für diesen Vorsatz gilt der Aufruf an die 1,1 Millionen Bewohner des nördlichen Gazastreifens, sich in den südlichen Teil in Sicherheit zu bringen, bevor die angedrohte Bodenoffensive beginnt. (Lesen Sie zum Thema auch die Artikel «Israel zögert vor Bodenoffensive – nicht nur wegen der Geiseln» und «Das geheime Tunnelsystem der Hamas».)
1,4 Millionen Menschen sind auf der Flucht
Doch allein diese Evakuierungsaufforderung zeigt, wie unmöglich es unter den Bedingungen des Gazastreifens ist, bei Angriffen dieses Ausmasses die Zivilbevölkerung zu schützen. Hunderttausende Menschen sollen sich zwar auf den Weg nach Süden gemacht haben. Aber auch dort wird weiter bombardiert, und viele mussten ihre Häuser verlassen.
Insgesamt sind laut UNO-Angaben inzwischen 1,4 der 2,2 Millionen Bewohner innerhalb des Gazastreifens auf der Flucht. Alle halbwegs geschützten Plätze zum Beispiel in Schulen sind heillos überfüllt. «Nirgendwo sind wir sicher», sagte einer der Geflüchteten, dessen Name nicht genannt werden soll, auf Anfrage unserer Redaktion.
Eine Trennung zwischen militärischen und zivilen Zielen ist auch deshalb fast unmöglich, weil sich die 30’000 bis 40’000 Kämpfer der Hamas gezielt hinter der Zivilbevölkerung verschanzen.
Auch schon in den bisherigen Kriegen haben sie ihre Waffenlager und Raketenwerfer in der Nähe von Spitälern, Kindergärten oder Moscheen platziert. Die weitverzweigten Tunnelanlagen verlaufen unter extrem dicht besiedeltem Gebiet. Angesichts seiner Kriegsziele dürfte Israel darauf nun noch weniger Rücksicht nehmen als zuvor.
Fast 18’000 Häuser im Gazastreifen sind zerstört und unbewohnbar, weitere 150’000 beschädigt.
Das erklärt die jetzt schon enorm hohe Zahl von Opfern und das Ausmass der Zerstörung im Gazastreifen. Von mehr als 7300 Toten, zwei Drittel davon Frauen und Kinder, spricht das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium. Überprüfbar ist das nicht, US-Präsident Joe Biden persönlich hat die Zahlen in Zweifel gezogen.
Aber wie schon in den vorangegangenen Kriegen, in denen später keine allzu grossen Abweichungen zutage traten, werden die palästinensischen Angaben mangels anderer Quellen auch von den Vereinten Nationen übernommen. Das gilt genauso für die Schätzung der Schäden. Fast 18’000 Häuser im Gazastreifen wurden demnach komplett zerstört oder sind unbewohnbar, weitere 150’000 beschädigt.
Hilfslieferungen genügen bei weitem nicht
Zahlen sind das nur, hinter denen Zigtausende Schicksale stehen wie das jener Palästinenserin aus dem südlichen Gazastreifen, die mit ihren zwei Töchtern und den alten Eltern in einem kleinen Zimmer bei Bekannten unterkam. «Wir sind alle krank vor Angst, ich habe 40 Grad Fieber», sagte sie am Telefon. Wasser gebe es noch, doch Brot sei knapp. «Wir backen Fladen, und jeder bekommt ein kleines Stück.» (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Zivilbevölkerung in Gaza: ‹Wir haben seit 16 Tagen keinen Strom mehr›».)
Bislang sind seit Kriegsbeginn laut UNO weniger als 100 Lastwagen mit Lebensmitteln und Medikamenten über die Grenze zu Ägypten in den Gazastreifen hereingekommen. Das ist nur ein Bruchteil dessen, was benötigt wird. Die Aufrufe der EU und der USA zu Feuerpausen und geschützten Korridoren für Hilfslieferungen haben bisher kein Echo gefunden in Israel.
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