Vor Israels BodenoffensiveDas geheime Tunnelsystem der Hamas
Wie ist es möglich, dass sich die Hamas solch ein Waffenarsenal im Gazastreifen aufbaute, der doch so abgeriegelt ist? Über das unterirdische Netzwerk – und dessen militärischer Nutzen.
Am Samstag, 7. Oktober, um 6.35 Uhr heulten die Sirenen des Luftalarms, zahllose Raketen durchbrachen das Abwehrsystem «Iron Dome» und schlugen auf israelischem Boden ein. Sie waren das Begleitfeuer für die Terroristen, die den Grenzzaun sprengten und sich mit ihren Helmkameras dabei filmten, wie sie israelische Zivilisten massakrierten. Für Israel ist es der wohl traumatischste Moment seiner an Traumata nicht eben armen Geschichte.
In den vergangenen zwei Wochen, so schätzen Militärexperten, sind aus dem Gazastreifen bis zu 7000 Raketen abgeschossen worden. Wie ist es möglich, dass sich die Hamas solch ein Waffenarsenal im Gazastreifen aufbaute, der doch so abgeriegelt ist – mit Raketen, die bis zu zehn Meter lang sein konnten? Und wo lagert die Terrororganisation das Kriegsgerät?
Unsere Redaktion hat mit Experten gesprochen, Satellitenbilder ausgewertet und versucht, den Weg der Waffen in den Gazastreifen nachzuvollziehen.
«Trotz der Bemühungen der ägyptischen Armee, die Tunnel zu beseitigen, sind viele von ihnen immer noch in Betrieb.»
«Wie kann die Hamas so viele militärische Kapazitäten aufbauen, wenn sie doch angeblich abgeschottet ist? Über die Seeroute, aber auch durch die Nutzung der bestehenden und neuen Tunnelsysteme», sagt John Spencer, ein Ex-Offizier der US-Armee und Tunnel-Experte. «Trotz der Bemühungen der ägyptischen Armee, die Tunnel zu beseitigen, sind viele von ihnen immer noch in Betrieb», sagte ein Palästinenser dem Nachrichtenportal «al-Monitor» 2021. Im selben Jahr waren beim Einsturz eines Tunnels drei Menschen ums Leben gekommen. Angeblich durch Gase, die Ägypten in die Tunnel geleitet habe.
Auch Israel hat in den vergangenen Jahren massiv versucht, neue Tunnel zu verhindern, für mehr als 530 Millionen Euro baute es eine weit in den Untergrund reichende Schutzmauer, die mit Detektoren gesichert wurde.
Dennoch nutzte die Hamas für den Angriff am 7. Oktober wieder Tunnel, sie führten zwar nicht auf israelisches Gebiet, sorgten aber dafür, dass die Terrorkämpfer unentdeckt bis kurz vor den Zaun kamen. Die Tunnel endeten in Gebäuden oder wurden mit Wellblech abgedeckt. Viele von ihnen sind mittlerweile zerstört.
«Die Verteidigungstunnel sind ein Labyrinth unter Gaza. Sie enthalten Lagerräume, Kommandoposten, medizinische Stationen.»
Was bleibt, ist das Tunnelsystem unter dem Gazastreifen selbst, die «Metro» der Hamas. «Die Verteidigungstunnel sind ein Labyrinth unter Gaza. Sie enthalten Lagerräume, Kommandoposten, medizinische Stationen», sagt Eado Hecht, ein Militärexperte aus Israel. Die Kämpfer der Hamas können sich so zwischen verschiedenen Gebieten bewegen, ohne an die Oberfläche zu kommen.
Mehrere Tausend Tunnel soll es allein zu Ägypten gegeben haben. Wer in Gaza mal ein wenig Abwechslung wollte zum überschaubaren kulinarischen Angebot, konnte sich bei einer ägyptischen Fast-Food-Kette etwas bestellen. Ein paar Stunden später war das Essen da.
Erst endeten die Tunnel in den Kellern von Privathäusern auf der ägyptischen Seite, später wurden sie nur noch mit Zelten bedeckt. Für die Hamas waren sie so wichtig, dass in ihrem Innenministerium eine eigene Tunnelverwaltung angesiedelt wurde. Manche Tunnel waren so gross, dass ein Lastwagen durchpasste, andere waren mit Schienen ausgelegt.
Kühlschränke, Autos, Benzin – alles kam durch die Tunnel. Sogar die Löwen im Zoo von Gaza sollen so ihren Weg ins Land gefunden haben. Und auch viele Waffen für die Hamas, die vom Iran unterstützt wird.
Al-Sisi sah die Tunnel als Bedrohung und liess sie schliessen
«Bis etwa 2013 wurden Raketen aus Syrien und dem Iran auf dem Schiff in den Sudan gebracht. Schmuggler brachten die Waffen dann über Ägypten und den Sinai durch Tunnel nach Gaza», sagt Fabian Hinz, Experte des Forschungsinstituts «International Institute for Strategic Studies» (IISS).
Die goldenen Zeiten endeten 2013. In Ägypten putschte der General Abdel Fatah al-Sisi die gewählte Regierung der Muslimbrüder von der Macht, die enge Verbindungen zur Hamas pflegten. Al-Sisi sah die Tunnel und den ungehinderten Waffenschmuggel als Bedrohung für die innere Sicherheit und liess sie schliessen. In manche wurde Abwasser gekippt. Andere wurden mit Beton gefüllt. Um die Grenze wurde eine Sicherheitszone gezogen, Häuser wurden abgerissen.
Einige Tunnel führen ins Meer hinaus. Durch sie schwimmen die Taucher der Hamas ins offene Wasser, zurück kommen sie mit Bauteilen für die Raketen.
Die Hamas und ihre Verbündeten reagierten auf die neuen Umstände. «Der Iran verfolgt die Strategie, den lokalen Ablegern eine eigene Raketenproduktion zu ermöglichen», sagt Hinz. Schon bei der Konstruktion der Geschosse wurde daran gedacht, dass deren Einzelteile leicht zu schmuggeln sein müssen. Oder improvisiert werden können. «Die Hamas hat sogar Taucher zu einem Wrack eines Schiffes aus dem Ersten Weltkrieg geschickt, um dort alte Granaten zu bergen», sagt Hinz. Deren Aussenhüllen wurden für neue Raketen verwendet.
Andere Teile für die Raketen kommen nach den Erkenntnissen des israelischen Geheimdienstes über das Meer. In Gaza gibt es etwa 500 Fischerboote, die meisten fischen tatsächlich, manche aber sollen auch Container vom Meeresboden aufsammeln, die von Schnellbooten vor der Küste abgeworfen wurden. Und auch hier hat sich die Hamas in die Erde gegraben. Einige Tunnel führen ins Meer hinaus. Durch sie schwimmen die Kampftaucher der Hamas ins offene Wasser, zurück kommen sie mit Bauteilen für die Raketen.
Eine Quelle der Frustration und Demütigung für die Palästinenser
2020 bombardierten die Israelis deshalb einen Küstenstreifen im Norden von Gaza, nahe des al-Shati-Flüchtlingscamps. Ein weiterer dieser Meerestunnel, so die Recherche der israelischen Streitkräfte, erstreckte sich tief ins Meer. Am Strand südlich von Zikim sieht man auf Satellitenbildern noch vereinzelt die Ruinen der von Israels Armee 2018 aufgespürten und zerstörten Anlage. Eine Aufnahme aus dem Jahr 2016 zeigt den Zustand und einen Teil des Tunnelverlaufs vor der Bombardierung.
Auch über israelisches Gebiet versucht die Hamas, Waffen in ihr Terrain zu schmuggeln – über die Grenzübergänge Erez und Kerem Schalom. Ein Tunnelsystem bei Kerem Schalom, ganz im Süden des Gazastreifens, soll Hunderte Meter ins ägyptische und israelische Gebiet gereicht haben. Israelische Grenztruppen spürten es 2018 auf und eliminierten es. Der Grenzübergang wurde nach den Terroranschlägen geschlossen, war in den Jahren zuvor aber der Punkt, an dem die Importe für den Gazastreifen legal ins Land kommen konnten.
Für die Palästinenser war das Nadelöhr nach Gaza lange eine Quelle der Frustration und Demütigung. Aus ihrer Sicht entschied die Regierung in Tel Aviv recht willkürlich, was ins Land durfte und was hinaus. Möbel und Kleidung waren die Hauptexportgüter aus dem Gazastreifen. Schloss die Armee Israels den Grenzübergang, drohten viele Jobs verloren zu gehen. Hinein durften natürlich keine Waffen und kriegstaugliches Gerät. Den Palästinensern blieb aber der Sinn verborgen, warum beispielsweise lange kein Koriander oder Lammfleisch eingeführt werden durfte.
Im August wurden in Erez Drohnen gefunden, die nach Gaza sollten. Auch unter der Erde soll der Schmuggel weitergegangen sein.
In den Jahren vor dem Anschlag am 7. Oktober schien Israel die Regeln aber gelockert zu haben – auch, weil die israelische Armee 2010 ein Schiff türkischer Aktivisten stürmte, die die Seeblockade durchbrechen und Hilfsgüter nach Gaza bringen wollten, zehn Türken kamen dabei ums Leben.
Danach durften wieder mehr Waren nach Gaza. Was offenbar auch dazu führte, dass die Hamas versuchte, Waffen unter die Güter zu mischen. In beide Richtungen. Einmal entdeckten Inspektoren Schusswaffen, Schalldämpfer und Munition, die in einer Möbelsendung aus dem Gazastreifen ins Westjordanland versteckt waren. Im August wurden in Erez Drohnen gefunden, die nach Gaza sollten. Auch unter der Erde soll der Schmuggel weitergegangen sein.
Viele Tunnel zerstört, viele wieder aufgebaut
«Die Tunnel sind für die Hamas der effektivste Weg, Waffen nach Gaza zu bringen», sagt Experte Hinz. Ägypten zog eine Sicherheitszone von 1,5 Kilometern um die Grenze und baute eine Mauer, die nicht nur sechs Meter in die Höhe ragt, sondern auch fünf Meter in die Tiefe geht. Mehr als 3000 Tunnel sollen zudem zerstört worden sein.
Immer wieder hat auch Israel versucht, das Netzwerk im Untergrund zu durchbrechen, zuletzt 2021. 160 Flugzeuge sollen damals gleichzeitig in der Luft gewesen sein. Viele Tunnel wurden zerstört, viele wohl wieder aufgebaut.
Rund 30 Tunnel nach Israel hat die israelische Armee bereits 2014 aufgestöbert. Die Tunnel von damals reichten mehrere Hundert Meter, einer sogar mehr als drei Kilometer tief ins israelische Gebiet hinein – unweit des Kibbuz Sa’ad. Ein- und Ausstiegsluken waren meist auf Feldern gebaut worden.
In naher Zukunft wird eine grosse Offensive Israels erwartet, die sich auch gegen die Tunnel richtet, das Rückgrat der Hamas.
Die Israel Defense Force (IDF) veröffentlichte einen Überblick über weitere grenznahe Schleusertunnel, die der Armee allein im Jahr 2018 gelungen waren, aufzuspüren und in Teilen zu zerstören, die meisten davon auf der Seite des Gazastreifens, andere unmittelbar hinter der Grenze auf israelischem Gebiet. Zugleich ist das nur ein Bruchteil der Infrastruktur, die sich noch verborgen im Untergrund von Gaza erstreckt.
In naher Zukunft wird eine grosse Offensive Israels erwartet, die sich auch gegen die Tunnel richtet, das Rückgrat der Hamas, das ihr Überleben sichert. Viele werden zerstört werden, andere nachwachsen. «Wenn der Krieg lange dauert, können sie nach und nach mehr graben, aber ohne Beton sind sie anfälliger für Einstürze», sagt Militärexperte Eado Hecht.
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