Krieg in NahostIsrael zögert vor Bodenoffensive – nicht nur wegen der Geiseln
Die USA mahnen vor einem schnellen Einmarsch in den Gazastreifen. Doch selbst Premier Netanyahu bremst. Was dahintersteckt.
Die Soldaten stehen bereit, die Ziele sind gesetzt, die Welt hält den Atem an – doch die erwartete Bodenoffensive der israelischen Armee in den Gazastreifen hat auch am 18. Tag des Kriegs noch nicht begonnen. Dass sie kommen wird, das wird in Israel weiterhin von niemandem ernsthaft infrage gestellt.
Doch wann das passiert und was die Gründe sind für das Abwarten, steht – gespeist von vielen, meist anonym bleibenden Quellen – nun im Mittelpunkt hochtouriger Debatten. Offenkundig gibt es zugleich treibende Kräfte und bremsende Faktoren. Auch Gräben zeichnen sich ab im Lager der Entscheider.
Die US-Regierung unter Präsident Joe Biden erscheint derzeit als massgebliche Kraft der Mässigung. Die «New York Times» und der Fernsehsender CNN berichten übereinstimmend und gewiss gezielt aus dem Washingtoner Machtzirkel, dass die USA aus gleich mehreren Gründen Zeit gewinnen wollen vor dem Einsatz von Bodentruppen.
Hoffnungen bei Verhandlungen um 220 Geiseln
Vorrangig solle dabei das Fenster offengehalten werden für Verhandlungen zur Freilassung der ungefähr 220 Geiseln, die in den Gazastreifen verschleppt wurden. Die Hamas schürt nun mit zynischem Geschick die Erwartungen, dass eine Lösung möglich sein könnte.
Nachdem am Freitag bereits zwei weibliche Geiseln mit US-Pässen freigelassen worden waren, folgten am Montagabend zwei Israelinnen, 79 und 85 Jahre alt – «aus humanitären Gründen», wie die Entführer erklärten. Zudem wird über die Vermittler aus Katar gestreut, dass die Hamas bereit wäre, weitere 50 Geiseln mit ausländischen Pässen freizulassen. (Lesen Sie dazu: «Angehörige von Hamas-Geiseln: ‹Das ist nicht unser Krieg! Bringt meine Familie zurück!›»)
Aus Washington werden daneben aber noch andere Argumente dafür angeführt, mit einer Bodenoffensive zu warten. Dazu zählt die Sicherstellung humanitärer Hilfe für die 2,2 Millionen Bewohner des Gazastreifens. Es sollen weitere Hilfskonvois über den ägyptischen Grenzübergang Rafah ermöglicht werden.
Biden ermahnte Netanyahu, nicht die gleichen Fehler zu machen wie die USA nach den 9/11-Terroranschlägen.
Zudem dringt die US-Regierung bei den Israelis auf einen Exit-Plan, also ein Konzept dafür, was nach dem Sturz der Hamas aus dem Gazastreifen werden soll. Biden persönlich ermahnte Israels Premierminister Benjamin Netanyahu, nicht die gleichen Fehler zu machen wie die USA nach den 9/11-Terroranschlägen bei ihren Kriegen in Afghanistan und im Irak.
Obendrein wuchert die Angst, dass ein israelischer Truppeneinmarsch in den südlichen Küstenstreifen eine Eskalation im Norden auslösen könnte, also einen Krieg mit der libanesischen Hizbollah-Miliz und womöglich mit deren Hintermännern im Iran. Darauf soll nicht nur Israel bestmöglich vorbereitet sein. Auch die US-Truppen in der Region brauchen noch Verstärkung, um sich gegen mögliche Angriffe proiranischer Gruppen zu schützen.
Die Amerikaner geben Israel «Ratschläge»
Bei alldem gibt es aber klare Signale aus Washington, dass einer Bodenoffensive grundsätzlich zugestimmt wird. Bekannt ist, dass US-Experten der israelischen Armee bei der Planung zur Seite stehen. Verteidigungsminister Lloyd Austin soll sich täglich mit seinem israelischen Amtskollegen Yoav Gallant austauschen.
Vermieden werden soll dabei aber der Eindruck, dass Washington den Ton vorgibt. «Sie geben uns Ratschläge», erklärte Michael Herzog, der Israels Botschafter in den USA ist und zugleich der Bruder des israelischen Präsidenten. «Aber sie sagen uns nicht, was wir tun und was wir lassen sollen.»
Bei der Entscheidung darüber, was genau zu tun ist, scheint Israels Führung allerdings noch keine einheitliche Haltung gefunden zu haben. Das Militär trommelt seit Tagen und erklärt, dass die Truppen nur noch auf den Marschbefehl durch die politische Führung warten. «Die Soldaten sind bereit und entschlossen. Sie trainieren weiter für den D-Day», sagte am Dienstagmorgen der oberste Armeesprecher Daniel Hagari.
Auf der Bremse aber steht offenkundig niemand anderes als Premier Netanyahu, den einer seiner Minister, ohne Namen natürlich, laut der Zeitung «Yedioth Ahronoth» schon als «Feigling» beschimpft. Trotz seiner entschlossenen Rhetorik hat Netanyahu in Kriegszeiten stets eher defensiv agiert.
In allen bisherigen Gaza-Kriegen unter seiner Führung beliess er es dabei, die Hamas zu schwächen, aber nicht zu stürzen. Bodentruppen kamen in Gaza bislang nur zweimal zum Einsatz: in den Kriegen 2008/09 und 2014. Um die eigenen Verluste gering zu halten, blieb ihre Mission dabei eng begrenzt.
Netanyahu-Vertraute mahnen zur Zurückhaltung
Aufgefallen ist, dass aus Netanyahus Umfeld seit einigen Tagen plötzlich zahlreiche Warnungen vor einer schnellen Bodenoffensive erschallen. Sein früherer Sicherheitsberater Jakov Amidror zum Beispiel erklärte in einem Radiointerview, es sei «kein Schaden, damit zu warten», weil jeder Tag mit Luftangriffen einen Vorteil für Israel schaffe.
Zugleich verbreitete sich in den sozialen Medien, reichlich geteilt von Netanyahus Vertrauten, ein Video mit der Botschaft: «Die Moral verpflichtet uns, dem Leben unserer Soldaten Vorrang zu geben.» Geworben wird dafür, «vor einer Bodenoffensive Gaza aus der Luft zu zerstören».
Klar ist bei alldem allerdings, dass die von Netanyahu und der Armee unisono ausgegebenen Kriegsziele nicht aus der Luft allein erreicht werden können. Wer die «Hamas zerschlagen» und eine «neue Sicherheitsrealität» an Israels Grenze im Süden schaffen will, wird allen Experten zufolge um einen massiven Einsatz von Bodentruppen nicht herumkommen.
Bei einem Truppenbesuch zu Wochenbeginn hat Verteidigungsminister Gallant den Soldaten deshalb zugerufen: «Haltet euch bereit. Die Offensive wird kommen.»
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