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Interview mit Stefanie Mahrer
«Im Verständnis der SP sind stets die Rechten die Antisemiten»

Samstagsinterview mit der Historikerin und Antisemitismus-Expertin Stefanie Mahrer. Foto: Beat Mathys / Tamedia AG.
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Ein Rabbiner wird bespuckt, in Zürich wird «Tod den Juden» an die Wand gesprayt. Was passiert gerade in der Schweiz, Frau Mahrer?

Es gibt eine Welle von Antisemitismus, wie wir sie in der Gegenwart noch nie erlebt haben. Man hört von vielen Jüdinnen und Juden, dass sie sich bedroht fühlen oder gar tätlich angegriffen werden. Der Krieg hat einen Antisemitismus an die Oberfläche geschwemmt, der latent im Untergrund geschlummert hat.

Inwiefern hat er «geschlummert»?

Gemäss Umfragen in Deutschland ist der harte Kern erklärter Antisemiten konstant und liegt bei etwa 10 Prozent der Bevölkerung. Weitere 20 Prozent sind latent antisemitisch. Das heisst, sie stimmen Aussagen zu, wonach Juden zu viel Macht hätten und an Diskriminierung selber schuld seien. Zusätzlich dazu gibt es aber auch Leute, die antisemitischen Aussagen in Gesprächen plötzlich zustimmen. Dies kann man als «schlummernden Antisemitismus» bezeichnen. Er ist Teil der Geisteshaltung in Europa.

Viele, die sich antisemitisch äussern, halten sich aber nicht für antisemitisch. Wie kommt es dazu?

Im politischen Spektrum links der Mitte distanziert man sich klar vom «Radau-Antisemitismus» von rechts. Aber sich selber gegenüber ist man weniger kritisch.

Gab es deshalb keine «Jews lives matter»-Bewegung nach dem 7. Oktober?

Die Stille nach den Massakern der Hamas war unglaublich. Da hätte man gerade von linker Seite eine klare Verurteilung erwarten können.

Warum geschah dies nicht?

Viele Linke haben den Widerstand der Palästinenser gegen die Besatzung in einen postkolonialen Diskurs eingeschrieben. Dabei werden die Israelis als weisse Kolonialisten gelesen, die die Palästinenser bekämpfen. Jegliche Auflehnung gegen die Unterdrückung, auch die Massaker der Hamas, werden als Befreiungskampf betrachtet.

«Das Massaker der Hamas ist nicht vergleichbar mit einem Raketenbeschuss.»

Die Massaker müssten im Kontext der Unterdrückung durch Israel verstanden werden, heisst es. Was ist davon zu halten?

Es ist ein Merkmal des Antisemitismus, Juden an allem die Schuld zu geben. Juden waren schuld an der Pest, am Ersten Weltkrieg, an der Weltwirtschaftskrise und nun eben auch an den Massakern der Hamas. Als Historikerin bin ich sehr für Kontext. Aber was ist der Kontext des Massakers vom 7. Oktober? Wenn man es einfach im Kontext des palästinensisch-israelischen Konflikts versteht, geht es um ein weiteres Ereignis in einer langen Reihe gewalttätiger Ereignisse. Aber der 7. Oktober ist ein Ereignis, das komplett singulär ist in seiner Brutalität, in seinem genozidalen Charakter. Wenn Babys vor laufenden Handykameras geköpft werden, fällt es mir schwer, das in irgendeinen Kontext zu setzen. Diese Schreckenstat muss als das verurteilt werden, was sie ist.

Auch UNO-Generalsekretär Antonio Guterres hat das Massaker der Hamas in den Kontext des Konflikts gestellt.

Das ist für mich nicht nachvollziehbar. Die Bodenoffensive der israelischen Armee bringt unglaubliches Leid für die Zivilbevölkerung in Gaza. Das Massaker der Hamas ist aber nicht vergleichbar mit einem Raketenbeschuss oder einem Terrorakt, der Todesopfer fordert. Es geht um ein gezieltes, lange geplantes Töten von Männern, Frauen, Kindern und Babys in einer Brutalität, wie man sie in jüngerer Zeit nur von den IS-Anschlägen her kennt. Diese werden jeweils weltweit verurteilt. Das Massaker der Hamas an den Israelis aber nicht.

Warum greifen postkoloniale Erklärungversuche im Fall von Israel nicht?

Israel ist keine Kolonialmacht. Dieses Narrativ ist falsch. Die Staatsgründung Israels hat einen historischen Grund, und das sind der Holocaust und der Antisemitismus in Europa. Jüdinnen und Juden sollte die Möglichkeit gegeben werden, in einem Staat zu leben, in dem sie keine Angst vor Verfolgung mehr haben müssen. Abgesehen davon gab es 1947 einen Teilungsplan der UNO, der eine Zweistaatenlösung vorsah. Der Plan wurde von den Jüdinnen und Juden angenommen, von den arabischen Staaten aber nicht. Als Israel 1948 gegründet wurde, wurde es einen Tag später angegriffen.

Grossbritannien hat bereits 1917 eine jüdische Heimstätte in Palästina versprochen. Zeigt das nicht, dass Israel auch koloniale Wurzeln hat?

Natürlich trifft Theodor Herzls (1860–1904) Parole «Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land» nicht zu. Es gab immer eine arabische Bevölkerung, aber eben auch eine jüdische. Vor allem aber hatten Jüdinnen und Juden keinen eigenen Staat in Europa, sie waren nie eine Kolonialmacht.

In den Sechzigerjahren hatte die westliche Linke grosse Sympathien für Israel. Warum schwand diese?

Israel wurde als sozialistischer Staat gegründet. Die Kibbuzim haben jeglichen Besitz geteilt. Das entsprach den damaligen linken Träumen. Zudem wurde Israel als David wahrgenommen, der gegen die arabischen Goliathe kämpft. Das änderte sich mit den Siegen Israels im Sechstagekrieg 1967 und den Besetzungen der Westbank, der Golanhöhen und vorübergehend auch des Sinai. Israel war nicht mehr das kleine, bedrängte Land, sondern eine regionale Militärmacht.

«Achtzig Prozent der Befragten in Deutschland sagten 1946/47, die Juden sollten nicht zurückkehren.»

Lange lautete die «Zauberformel» für Linke: «Wir sind antizionistisch, aber nicht antisemitisch.» Kann das funktionieren?

Es kommt darauf an, wie man diese Begriffe definiert. Die Antisemitismus-Definition der Holocaust Remembrance Alliance besagt, dass fast jede Kritik* an Israel antisemitisch sei. Die Jerusalemer Definition von 2021 differenziert: Kritik an Israel ist nur dann antisemitisch, wenn das Existenzrecht Israels negiert oder wenn das Handeln Israels mit anderen Massstäben gemessen wird als das Handeln anderer Staaten in der Region. Es muss aber festgestellt werden, dass nicht nur aktuell «Zionisten» als Synonym für Juden verwendet wird. Dabei wird unter dem Deckmantel des Antizionismus eben nicht die Politik der israelischen Regierung kritisiert, sondern es werden judenfeindliche Ressentiments verbreitet. Der Antisemitismus hat durch den Staat Israel eine neue Dimension bekommen.

Wie hat sich der Antisemitismus historisch entwickelt?

Im kirchlichen Antijudaismus galten die Juden als Gottesmörder. Im Mittelalter kam die wirtschaftliche Dimension zur Judenfeindlichkeit dazu – etwa durch die Ausschliessung von Menschen jüdischen Glaubens aus den Zünften und damit den handwerklichen Berufen. Mit dem Aufkommen des «wissenschaftlichen Antisemitismus» im 19. Jahrhundert war die christliche Taufe kein Ausweg aus der Diskriminierung mehr, weil das Judentum aus dem Blut begründet wurde. Vor 1945 war Antisemitismus gleichsam «normal», ein Teil des Wissens. Selbst nach dem Zivilisationsbruch des Holocausts sagten in Umfragen in den Jahren 1946/47 achtzig Prozent der Befragten in Deutschland, die Juden sollten nicht ins Land zurückkehren. Die Linke der Nachkriegszeit hat sich jedoch ganz klar gegen Rassismus und Antisemitismus positioniert.

Und heute haben wir SP-Co-Präsident Cédric Wermuth …

… der sich natürlich vom Antisemitismus distanziert. Im Verständnis der SP sind stets die Rechten die Antisemiten. Wermuth steht exemplarisch für die mangelnde Selbstreflexion vieler Linker. Eine jüngst erschienene Studie besagt, dass Antisemitismus vor allem bei alten, rechten, weissen Männern vorhanden ist. Das nahm Wermuth sogleich zum Anlass, linken Antisemitismus als rechte Propaganda zu bezeichnen.

Ein breites, überparteiliches Bündnis organisiert gemeinsam mit dem Ukrainischen Verein in der Schweiz am 4. März 2023 um 14 Uhr in Bern eine nationale Friedenskundgebung unter dem Motto «Stand With Ukraine». Besammlung ist auf der Schützenmatte. Anschliessend folgt ein Umzug und Reden auf dem Bundesplatz. 

Nationalrat Cédric Wermuth, SP

© Dres Hubacher / Tamedia AG

Haben Sie die Ergebnisse der Studie überrascht?

Nein, weil die Fragen von alten rechten Klischees über Juden geprägt waren im Sinne von: «Streben die Juden die Weltherrschaft an?» Es wurde aber nicht gefragt, ob Israel eine koloniale Macht sei.

Antisemitismus kommt ursprünglich von rechts. Warum hört man seit dem 7. Oktober fast nichts von der Rechten?

Die grossen rechten Parteien in Westeuropa sind genauso antisemitisch, wie sie es immer waren. Aber die antimuslimischen Ressentiments sind momentan stärker. Die Rechte vertritt ja auch die These, dass der aktuelle Antisemitismus erst durch die grossen Migrationsströme 2015 aus muslimischen Ländern nach Europa importiert worden sei.

Trifft das denn nicht auch zu?

Studien zum Antisemitismus im Nahen Osten zeigen, dass etwa sechzig bis achtzig Prozent der Bevölkerungen antisemitisch eingestellt sind. Dieser Antisemitismus ist vielmehr politisch als religiös motiviert. Im Iran – dem grossen Unterstützer der Hamas – ist Antisemitismus Staatsdoktrin. Unter den Migrantinnen und Migranten, die nach 2015 nach Europa kamen, dürfte es viele Antisemiten geben. Man kann aber nicht sagen, der sich aktuell manifestierende Antisemitismus sei hauptsächlich importiert. Dafür sind zu viele Deutsche und Schweizer daran beteiligt. Ich plädiere stark dafür, dass sich die europäischen Gesellschaften selbstkritisch mit ihren eigenen antisemitischen Einstellungen befassen und Verantwortung für die eigenen Traditionen übernehmen.

«Antisemitismus ist in der Schweiz nicht Teil der Schulbildung.»

Was ist zu tun gegen Antisemitismus?

Ich dachte immer, ich wüsste, was zu tun wäre. Aber nach dem 7. Oktober bin ich etwas ratlos.

Muss etwas bei der Bildung getan werden?

Die Thematik Antisemitismus ist heute in der Schweiz nicht Teil der Schulbildung. In meiner Schulkarriere fanden auch der Zweite Weltkrieg und der Holocaust schlicht nicht statt. Dem müsste unbedingt mehr Gewicht im Unterricht verliehen werden. Wichtig wäre auch, dass junge Menschen im Umgang mit sozialen Medien und Algorithmen geschult werden. Sie müssen Antworten geben können auf Fragen wie: Wo kommen meine Informationen her? Welchen Quellen kann ich vertrauen? Welche Absichten stecken womöglich hinter der Verbreitung einer Information?

Müssten die islamischen Verbände Stellung beziehen?

Ich begrüsse es sehr, wenn sich muslimische Verbände von der Hamas distanzieren. Aber man kann das nicht verlangen – wie wir es auch nicht von den Juden weltweit verlangen dürfen, sich von der Politik Israels zu distanzieren.

Was kann man vom Bundesrat verlangen?

Der Bundespräsident tritt Ende Jahr aus der Regierung aus. Er wäre in einer unglaublich sicheren Position gewesen, die Anschläge des 7. Oktobers in aller Deutlichkeit zu verurteilen und ein klares Bekenntnis gegen Antisemitismus zu äussern.

* Die ursprüngliche Version, wonach gemäss der Definition der Holocaust Remembrance Alliance «jegliche Kritik» an Israel antisemitisch sei, wurde ersetzt durch «fast jede Kritik».