Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Interview zum Film «I’m Still Here»
«Die Mörder meines Vaters sind immer noch auf freiem Fuss»

Beatriz Keller Paiva sitzt auf einem Stuhl in ihrem Wohnzimmer in Bern. Im Hintergrund sind ein Schrank mit Dekorationsgegenständen und ein Gemälde an der Wand zu sehen. Foto: Nicole Philipp/Tamedia AG
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Rio de Janeiro, am Morgen des 20. Januar 1971. Die Familie Paiva plant, den Tag am Strand zu verbringen, als es an der Tür klingelt. Bewaffnete Männer stürmen in die Wohnung und zwingen den Vater Rubens Paiva, sie in die Kaserne zu begleiten. Für eine kurze Befragung, wie sie sagen. Es ist das letzte Mal, dass die Familie ihn sieht.

Was danach aus der bis dahin unbeschwerten Familie wird, ist der Stoff einer der grössten Film-Überraschungen des Jahres: «I’m Still Here» füllt derzeit die Kinos weltweit. Er ist für drei Oscars nominiert, und die Hauptdarstellerin Fernanda Torres hat gerade einen Golden Globe gewonnen und Konkurrentinnen wie Angelina Jolie, Kate Winslet oder Nicole Kidman hinter sich gelassen.

Beatriz Paiva, die jüngste Tochter der Familie, sitzt auf dem Sofa ihrer Wohnung in Bern, wohin sie 1986 die Liebe verschlagen hat. Dass ihre Familie gerade weltweit in aller Munde ist, lässt sie nicht unberührt. Wenn sie erzählt, kullern immer wieder Tränen über ihr Gesicht, und doch ist auch ein bisschen Stolz auszumachen, dass ausgerechnet ihre Familiengeschichte dazu Anlass gibt, dass eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren brasilianischen Geschichte erstmals im grossen Stile öffentlich diskutiert wird.

Zwischen 1964 und 1985 wurde Brasilien von einem Militärregime regiert, das von konservativen Kreisen (und vermutlich von den USA) aus Angst vor kommunistischen Kräften und «kubanischen Verhältnissen» installiert worden war. Geschätzt wird, dass während der Militärdiktatur bis zu 50’000 Menschen gefoltert und um die 500 aus politischen Motiven ermordet wurden. Der Vater von Beatriz Paiva war einer von ihnen.

Welche Erinnerung haben Sie an den Tag, an dem das Leben Ihrer Familie aus den Fugen geriet?

Ich war damals zehnjährig und habe die Verhaftung meines Vaters selber nicht mitgekriegt. Es war ein Feiertag, und ich habe noch geschlafen. Doch die Militärs blieben zwei Tage in unserer Wohnung. Meine Mutter sagte, es handle sich um Schädlingsbekämpfer. Das habe ich geglaubt. Doch die Stimmung war beängstigend.

Warum ist Ihr Vater in den Fokus des Militärs geraten?

Man hat ihn wegen falscher Informationen für einen Strippenzieher des Widerstandes gegen das Militärregime gehalten. Dabei hat er nur mitgeholfen, Briefe an der Zensur vorbeizuschleusen, und er hat Leute finanziell unterstützt, die ins Exil flüchten wollten. Mein Vater war Ingenieur und er gehörte dem linken Flügel des Kongresses an, als der Militärputsch erfolgte. Das reichte, um als verdächtiges Subjekt zu gelten.

Man richtete Ihrer Mutter aus, dass er am Abend wieder zurück sein werde. Was geschah danach?

Er kehrte nie mehr zurück – und unsere Odyssee begann. Einen Tag später holten sie auch meine Mutter ab und hielten sie zwölf Tage lang fest. Es folgte eine lange Zeit der Ungewissheit. Meine Mutter setzte alle Hebel in Bewegung, um herauszufinden, was mit meinem Vater geschehen war. Doch irgendwann wurde ihr gedroht, dass etwas Schlimmes passieren werde, sollte sie weiter recherchieren.

Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.

An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.

Wann realisierten Sie, dass Ihr Vater umgebracht worden war?

Nach circa einem Jahr ahnte ich es. Man hörte ja viele Geschichten. Die Regierung bemühte sich, ein Lügenszenario aufzutischen. Sie behaupteten, Oppositionelle hätten meinem Vater zur Flucht aus dem Kasernengefängnis verholfen. Sie inszenierten sogar eine filmreife Szene inklusive Schiesserei und eines brennenden Autos mitten in Rio, um diese Version zu belegen. Doch Journalisten und später Staatsanwälte haben den Schwindel schnell entlarvt. In Wirklichkeit ist er zwei Tage nach seiner Verhaftung zu Tode gefoltert worden.

Gilberto Gil, Caetano Veloso, Paulo Coelho: Viele Linke und Künstler flüchteten in dieser Zeit ins Exil. Hat Ihr Vater die Gefahr unterschätzt?

Ja. Er war ein mutiger Mann. Er sagte immer, dass die Militärs bald weg sein würden, dass bald Wahlen anstünden, dass alles gut werde. Das Gegenteil war der Fall.

Ein Mann und eine Frau lächeln in die Kamera am Strand, im Hintergrund sind weitere Personen und Gebäude sichtbar.

Wie fühlt es sich an, die eigene Familiengeschichte nun auf der Kinoleinwand erzählt zu bekommen?

Es ist überwältigend. Weil alle Beteiligten, vor allem der Regisseur Walter Salles, mit unglaublicher Sensibilität und Präzision gearbeitet haben. Als ich den Film in Venedig das erste Mal gesehen habe, sind die ganze Zeit Tränen geflossen. Auch wenn manches dramaturgisch verknappt wurde, hatte ich das Gefühl, dass hier mein Leben aufgeführt wird. Angefangen mit der Farbgebung und dem Licht in den Szenen vor der Verhaftung. Danach wird der Film dunkler, vieles spielt sich im gedämpften Licht ab. Genau so habe ich diese Zeit empfunden.

Der Rummel ist gerade vor der Oscarverleihung riesig. Es vergeht kein Tag, an dem nicht irgendwo auf der Welt über Ihr Leben berichtet wird. Ist das nicht beängstigend?

Es erfüllt mich mit Stolz, Genugtuung und – ja – auch mit Schmerz. Ich werde gerade ständig mit Fragen konfrontiert, die mich in die dunkelste Zeit meines Lebens zurückbringen.

Waren Sie in die Dreharbeiten involviert?

Nicht direkt. Der Drehbuchautor besuchte mich in Bern und hat mich lange befragt. Und der Regisseur Walter Salles war schon als Kind öfter bei uns zu Gast. Er hat auf jedes Detail geachtet, von der Möblierung der Wohnung bis zur Musik, die wir damals hörten. Und wenn ich der Schauspielerin Fernanda Torres zuschaue, sehe ich tatsächlich meine Mutter. Wie sie spricht, wie sie sich bewegt – alles ist fast erschreckend stimmig. Für die Szene, als sie in Haft war, hat sie zwölf Tage nicht geduscht und acht Kilo abgenommen, um nachempfinden zu können, was meine Mutter in dieser Zeit durchgemacht hat.

Eine Gruppe von Kindern und einem Erwachsenen posiert fröhlich im Freien vor einem Haus mit Garten.

Ihre Mutter Eunice ist ohnehin die Heldin des Films. Sie zog nach dem Verschwinden ihres Mannes mit den fünf Kindern nach São Paulo, schloss mit 47 ihr Rechtsstudium ab. Sie wirkt im Film ungemein stark und signalisiert dem Regime stets, dass sich ihre Familie nicht in die Knie zwingen lässt.

So war sie. Sie war eine Pionierin in einer damals sehr machoiden brasilianischen Gesellschaft. Sie war emanzipiert, progressiv, selbstständig und hat einem übermächtigen Apparat die Stirn geboten. Sie war Anwältin der vom Musiker Sting gegründeten «Rainforest Foundation» und hat auch durch die Verteidigung indianischer Gebiete zur Rettung des Waldes beigetragen. 2018 ist sie gestorben. Doch sie hat letztlich noch erreicht, dass der Fall meines Vaters demnächst am Obersten Gericht Brasiliens noch einmal verhandelt wird.

Die Mörder Ihres Vaters sind bis heute nicht für ihre Tat belangt worden?

Nein. Sämtliche Verbrechen der Militärdiktatur sind bis heute ungesühnt und nicht verarbeitet. Wegen eines Amnestie-Gesetzes wurden alle Täter geschützt.

Hat dieser Film in Brasilien deshalb dermassen eingeschlagen, weil er diesen blinden Fleck der Geschichte beleuchtet?

Ja. Er erzählt exemplarisch von einer historischen Ungerechtigkeit, die immer wieder Aktualität erlangt. Demnächst wird Brasiliens Ex-Präsident Jair Bolsonaro der Prozess gemacht, weil er 2022, nach seiner Abwahl, mutmasslich einen Militärputsch anzetteln und seinen gewählten Nachfolger Lula da Silva vergiften wollte. Da hätte sich beinahe eine üble Geschichte wiederholt.

Fernanda Torres als Eunice in einer Szene aus ’I m Still Here’, gedreht in Rio de Janeiro, Brasilien, unter der Regie von Walter Salles.

Bolsonaro hat die Militärdiktatur geradezu verherrlicht und glorifiziert die Mörder und Folterer bis heute als Helden. Wie haben Sie seine Amtszeit erlebt?

2014 wurde im Kongress in Brasília eine Büste meines Vaters eingeweiht. Ich durfte dort eine Rede halten. Bolsonaro war damals noch Kongressabgeordneter und hat im Vorbeigehen die Büste meines Papas bespuckt. Dass dieser Mann vier Jahre später zum Präsidenten Brasiliens gewählt wurde, hat mich fassungslos gemacht. Ich konnte nicht mehr gut schlafen und hatte tatsächlich Angst um meine Familie. Er hetzte verbal und auf Social Media derart aggressiv gegen die linken «Feinde», dass bei mir die dunkelsten Erinnerungen hochkamen.

Was lehrt uns Ihr Film?

Der Film ist nicht nur für Brasilien, sondern für die ganze Welt lehrreich. Rechtsextreme sind überall im Vormarsch, Gerichte werden von Präsidenten zunehmend als etwas Lästiges empfunden, die Presse wird ausgehebelt, es wird eine Art Gehirnwäsche betrieben. Und die Diktatur wird in gewissen Kreisen gerade wieder als eine gangbare Regierungsform angesehen. Die Weltgeschichte verändert sich schnell, und wir müssen wachsam sein, denn die Demokratien sind in Gefahr. Die Geschichte meiner Familie zeigt, was geschieht, wenn eine unkontrollierte staatliche Autorität aus dem Ruder läuft und ihren Hass auf Andersdenkende auslebt.

Denken Sie, der Film hat die Macht, ein Umdenken zu bewirken?

Es ist schon viel erreicht, wenn über diese Zeit gesprochen wird. Und wenn auch nur ein Teil der Leute erkennt, wie es ist, in einer Diktatur zu leben. Wer nicht kuscht oder wer eine abweichende Meinung äussert, führt ein Leben in Angst. In unserem Fall in Todesangst. Das Gefühl, vom Staat nicht geschützt und sogar bedroht zu sein, ist eine sehr unheimliche Erfahrung.

Ihr Bruder, der im Rollstuhl sitzt, hat mit seinem Bestseller «Ainda estou aqui» die Vorlage zum Film geschrieben. Vor wenigen Tagen wurde er in São Paulo am Rande des Karnevals – vermutlich von Bolsonaro-Anhängern – mit Bier beworfen. Ist es immer noch gefährlich, sich in Brasilien politisch zu positionieren?

Brasilien ist noch immer ein heillos gespaltenes Land. Und wenn man als exponierte Person auf der Strasse erkannt wird, kann es durchaus heikel werden. Das ist dann die Kehrseite der gegenwärtigen Aufmerksamkeit.

Vorpremieren in Biel und Bern, am Sa, 8.3. in Anwesenheit von Beatriz Paiva. Regulärer Kinostart: 13.3.