Bolsonaro-Interview mit Autor «Brasilien ist in einer Sackgasse»
Wird Jair Bolsonaro im Oktober wiedergewählt? Luiz Ruffato blickt auf drei Jahre unter dem rechtsradikalen Präsidenten zurück und malt ein düsteres Zukunftsbild für sein Land.
Herr Ruffato, wie würden Sie den Zustand Brasiliens beschreiben?
Brasilien erlebt eine der schlimmsten Phasen seiner Geschichte. Wir haben seit der Militärdiktatur 1985 so einige katastrophale Regierungen erlebt. Dann kam mit Jair Bolsonaro ein Mann an die Macht, der aus politischer Sicht völlig unvorbereitet war, aus intellektueller Sicht mittelmässig und aus psychiatrischer Sicht vermutlich krank ist. Mit seiner zynischen, ressentimentgeladenen und von jeglicher Empathie befreiten Politik hat Jair Bolsonaro alle Brücken gesprengt, die die Barbarei von der Zivilisation trennen.
Wie sieht seine Schadensbilanz aus?
Im Grunde sind alle Indikatoren der Bolsonaro-Regierung katastrophal: Die kumulierte Inflation liegt bei 18,9 Prozent, wir haben die vierthöchste Arbeitslosenrate der Welt. Und 27 Millionen leben in Armut. Aber der schlimmste Schaden der Regierung Bolsonaro sind die fast 660’000 Todesfälle durch Covid-19, von denen einen grossen Teil seine Regierung zu verantworten hat, weil sie die Toten stets gering schätzte und die Schwere des Problems ignoriert hat.
Bolsonaro trat sein Amt mit dem Versprechen an, die Kriminalität einzudämmen. Tatsächlich war die Mordrate zunächst rückläufig. Gleichzeitig stieg die Zahl der von der Polizei begangenen Tötungen auf Rekordniveau.
Fast neun von zehn Brasilianerinnen und Brasilianern fürchten sich, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden. Das ist unrühmlicher Weltrekord. Wobei sich die Bevölkerung vor den Bösewichten und vor der Polizei gleichermassen fürchtet. Brasilien ist eines der gewalttätigsten Länder der Welt. Daran hat auch Bolsonaro nichts geändert. Diese Gewalt wird durch den Drogenhandel, durch die Miliz und durch die Polizei selbst verursacht. Und diese Gruppen haben heute Vertreter in allen Bereichen, einschliesslich der Politik.
Ein weiterer Grund für die Gewalt könnte der Umstand sein, dass in keinem anderen Land der Welt – ausser in Katar – der Reichtum so ungleich verteilt ist. Hat sich dies unter Bolsonaro verschlimmert?
Die Einkommenskonzentration in Brasilien ist historisch bedingt, aber unter der Regierung Bolsonaro hat sie stark zugenommen. Das durchschnittliche Monatseinkommen der brasilianischen Bevölkerung sank im vergangenen Jahr erheblich. Dies ist das Ergebnis einer radikal neoliberalen Wirtschaftspolitik, die die strukturellen Probleme Brasiliens ignoriert.
Dabei gabs von den Ökonomen doch zunächst Applaus. Die Wirtschaft erholte sich vor der Corona-Krise. Gibt es also doch etwas, was Bolsonaro richtig gemacht hat?
Dieser Applaus ist verstummt. Es geschah doch das Absehbare: Der Finanzmarkt und die grossen Geschäftsleute setzten ihre Hoffnungen auf ausserordentliche Gewinne mit der Regierung Bolsonaro – dafür wurde er ja gewählt. Das Kapital hat keine politische Partei, es setzt auf diejenigen, von denen es glaubt, dass sie die besten Ergebnisse für sein Geschäft erzielen werden, unabhängig davon, ob sie die Gesetze einhalten oder nicht. Doch unter Bolsonaro setzte kein Boom ein. Seit 2017 schaukelt unser BIP abwärts.
Trotzdem: Laut neuesten Umfragen wird mindestens ein Viertel der Stimmen an ihn gehen. Hat er also etwas richtig gemacht?
Ja. Bolsonaros Ziel war es immer, alle Errungenschaften, die während der Präsidentschaft von Lula und Dilma Rousseff erzielt wurden, zu lähmen und zu zerstören. Und das hat er tatsächlich sehr gut gemacht: In allen Bereichen der Gesellschaft sind wir auf das Niveau des späten zwanzigsten Jahrhunderts zurückgefallen.
Weltweit wird vom strukturellen Rassismus gesprochen. In Brasilien wuchert dieser geradezu exemplarisch. Die Mehrheit der Bevölkerung ist schwarz, sie ist aber überall unterrepräsentiert, ausser in der Statistik der Ärmsten im Land. Weisse verdienen noch immer durchschnittlich doppelt so viel wie Schwarze. Warum ist das so?
Dies ist eine historische Frage, die der Entstehung Brasiliens zugrunde liegt, das immer ein sozial ungleiches Land war. Ein Land, das aus einer kleinen aristokratischen Elite hervorging, die zunächst die Ureinwohner, dann die versklavten Schwarzafrikaner und später die unglücklichen europäischen und japanischen Einwanderer unterjochte. Brasilien war eines der letzten Länder, die die Sklaverei abschafften, und als es dies tat, entwickelte es keine Politik, um diesen riesigen Teil der Bevölkerung aufzunehmen. Er wurde einfach seinem Schicksal überlassen. Diese Realität hat sich durch die gesamte Geschichte Brasiliens gezogen und zeigt sich heute in ihrer ganzen Grausamkeit.
«Das katastrophale Erbe von Bolsonaros Regierung wird noch mindestens eine Generation lang ein Problem bleiben.»
Wie könnte sich das ändern?
Dieser Wandel muss auf radikale Weise vollzogen werden. Und das wird Generationen dauern. Wir können nur dann von einer Nation und einer Demokratie sprechen, wenn wir eine hochwertige öffentliche Bildung anbieten und die Kluft zwischen Arm und Reich verringern.
Die Bildung dürfte sich unter Bolsonaro kaum verbessert haben. Sein Bildungsminister vertrat die Meinung, dass die Universität nur einer kleinen Elite zugänglich sein sollte.
Die Regierung Lula hat seinerzeit die Zahl der öffentlichen Universitäten in Brasilien verdreifacht, Quoten für afrikanischstämmige und indigene Bevölkerungsgruppen eingeführt und ein Finanzierungssystem für bedürftige Schüler geschaffen. Grosse Errungenschaften, die von der Regierung Bolsonaro schrittweise zerstört wurden. Sie wurden zwar nicht rückgängig gemacht, aber ihre Umsetzung wurde stark behindert. Das Problem ist, dass wir immer noch ein schreckliches Grundbildungssystem haben. Brasilien belegt einen der letzten Plätze in der Pisa-Rangliste.
Im Oktober wird gewählt. Alles läuft auf einen Zweikampf zwischen Bolsonaro und dem linken Kandidaten Luiz Inácio Lula da Silva hinaus, der das Land bereits acht Jahre lang regiert hat. Wird Bolsonaro wiedergewählt?
Momentan sieht es nicht so aus. Dies bedeutet natürlich nicht das Ende von Bolsonaro oder vielmehr des Bolsonaro-Effekts. Diejenigen, die ihn aus ideologischen Gründen gewählt haben, werden weiterhin Einfluss auf die Gesellschaft ausüben, und ausserdem wird das katastrophale Erbe seiner Regierung noch mindestens eine Generation lang ein Problem bleiben.
Ist der ähnlich polarisierende Lula tatsächlich der Hoffnungsträger, den das Land jetzt braucht?
In der Tat ist eines der Probleme, die wir in unserer zerbrechlichen und jungen Demokratie nicht lösen konnten, die Bildung von Führungspersönlichkeiten. Sowohl die linken als auch die rechten Parteien waren nicht in der Lage, junge Menschen für die Politik zu begeistern. Alles, was die sehen, ist der Machtkampf alter Führungspersönlichkeiten, die sich an alte Bündnisse halten.
Dabei hatte die Linke doch genügend Zeit, eine junge, unverbrauchte Kandidatin oder einen Kandidaten aufzubauen.
Das Problem betrifft, wie gesagt, nicht nur die Linke. Keine Partei hat es geschafft, eine neue Führung zu bilden. Und das zeigt das Versagen der brasilianischen politischen Kräfte. Politik ist immer noch sehr stark an archaische Formen der Macht gebunden und mit der Idee der Korruption, der Verteidigung von Besitzstandswahrung verbunden. Also etwas, das weit entfernt ist vom Alltag des einfachen Bürgers.
Unter Lulas Regierung von 2003 bis 2011 hat sich im Land viel verbessert, doch eine taugliche Verkehrsinfrastruktur hat auch er nicht aufgebaut, und grüne Anliegen fanden bei ihm kaum Gehör. Ist Lula noch derselbe wie damals?
Ich glaube nicht, dass er sich wesentlich verändert hat. Seine Partei, die PT, muss, um Wahlen zu gewinnen und zu regieren, Bündnisse mit den Schlimmsten der brasilianischen Politik eingehen. Heute gibt mehr als die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung an, evangelisch zu sein – grossmehrheitlich Pfingstler und Neo-Pfingstler – und Lula braucht diese Stimmen. Daher wird er sicherlich Zugeständnisse machen. Wie im Jahr 2002, als er sich mit den Evangelikalen verbündete, die ihn zwar unterstützten, aber die gesamte fortschrittliche Agenda bremsten. Ausserdem wird Lula wieder dem Finanzmarkt zuwinken müssen, um zu zeigen, dass er die Grundlagen der kapitalistischen Wirtschaft nicht antasten wird.
Sein politischer Erfolg gründete auf einem Wirtschaftsboom, der vor allem auf der Erschliessung fossiler Rohstoffe basierte. Sind die Ideen von Lula noch zeitgemäss?
Das grosse Problem seiner Regierungsperioden – und ich behaupte, es waren die besten, die wir bisher in der Geschichte Brasiliens hatten – war genau diese Wette auf eine Wirtschaft, die auf dem Handel mit Rohstoffen basierte. Damit hat er den Prozess der Deindustrialisierung des Landes eingeleitet, der sich unter den Regierungen Temer und Bolsonaro stark verschärft hat. Und er hat die Umweltpolitik vernachlässigt, indem er beispielsweise der Viehzucht und dem Sojaanbau Vorrang eingeräumt hat. Möglicherweise wird er dies, als Reaktion auf die Regierung Bolsonaro, die eine Politik der verbrannten Erde betreibt, zu verändern versuchen. Wie sehr, ist schwer abzuschätzen.
Was könnte er denn überhaupt verändern? Sie haben die Bündnisse angesprochen: Im Parlament sitzen Abgeordnete aus 25 Parteien, da keine 5-Prozent-Hürde existiert. Die Rechte hat noch immer die Mehrheit. Viele Parlamentarier sind Interessenvertreter der Agrarindustrie, welche für die Rodungen im Amazonas verantwortlich ist.
Die Präsidentschaftswahlen in Brasilien fallen mit den Wahlen zur vollständigen Neubesetzung der Abgeordnetenkammer und zur teilweisen Neubesetzung des Bundessenats zusammen. Es könnte also sein, dass die Linke ihre Anteile im Kongress ausbauen kann. Aber das bedeutet natürlich nicht, dass die Rechte nicht auch in der neuen Regierung an der Macht sein wird.
«Der Wind hat sich gedreht. Pragmatisch gesehen, ist die Mehrheit heute an einer Rückkehr Lulas interessiert.»
In Ihren Büchern beschreiben Sie den Wandel Brasiliens aus der Perspektive der Arbeitenden, Besitzlosen und Entrechteten. Wie ist ihre derzeitige Situation?
In vielen Gegenden auf der Welt hat sich die formale Arbeit in ihren Grundzügen radikal verändert. Es gibt nicht mehr den typischen Arbeitnehmer, der über seine Arbeitskraft verhandelt und in der Gewerkschaft eine Möglichkeit hat, Rechte und Garantien zu fordern. Heute sprechen wir vom Prekariat und nicht mehr vom Proletariat. In Brasilien, wo die Arbeitsbeziehungen schon immer prekär waren, zeigt sich diese neue Realität noch deutlicher.
Viele aus der wirtschaftlichen Unterschicht haben seinerzeit Bolsonaro gewählt. Werden sie es erneut tun, oder hat unter den Bolsonaro-Wählern ein Sinneswandel stattgefunden?
Das Votum der Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung ist nicht ideologisch, sondern pragmatisch und wandelbar. Oft ist es abhängig von religiösen Orientierungen oder der Erwartung, unmittelbare Probleme zu lösen. Im Jahr 2018 führte ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren zur Wahl von Bolsonaro. Zunächst gab es einen parlamentarischen Staatsstreich gegen Präsidentin Dilma Rousseff. Dieser ebnete den Weg für den juristischen Staatsstreich gegen Lula. Dessen Kandidatur wurde ausgerechnet von Bundesrichter Sergio Moro verhindert, der wenig später Bolsonaros Justizminister wurde. Doch der Wind hat sich gedreht. Pragmatisch gesehen, ist die Mehrheit heute an einer Rückkehr Lulas interessiert. Aber, ich wiederhole, das hat nichts mit einer ideologischen Position zu tun.
Welche Rolle spielten die sozialen Medien? In Brasilien, so scheint es, haben Youtuber heute fast mehr Macht als die Politiker selbst.
Die sozialen Medien allein haben Bolsonaro nicht zur Wahl verholfen. Auch die traditionelle Pressekampagne gegen Lula und vor allem die Kampagnen in religiösen Kreisen hatten ein grosses Gewicht. Ich glaube, dass die PT die Bedeutung der sozialen Medien für den Ausgang der Wahlen verstanden hat und sie sicherlich besser zu ihren Gunsten zu nutzen weiss.
Wie sehen Sie die Zukunft des Landes? Wächst eine verlorene Generation heran?
Ich fürchte ja. Sowohl wegen der wirtschaftlichen und finanziellen Probleme und der Gewalt in den Städten als auch wegen der fehlenden Aussichten auf kurz- oder mittelfristige Verbesserungen. Die Hälfte der Jungen gibt an, dass sie das Land verlassen würde, wenn sie könnte.
Das klingt alles furchtbar aussichtslos. Gibt es etwas, was Ihnen Hoffnung macht?
Allein die Tatsache, die Regierung Bolsonaro loszuwerden, wird bereits eine sehr wichtige Veränderung sein. Doch der Schaden, den sie hinterlassen wird, zusammen mit dem Schaden, den die Pandemie verursacht hat, lassen wenig Hoffnung auf unmittelbare Besserung. So sehr wir uns auch bemühen, optimistisch zu sein, glaube ich, dass sich Brasilien in einer Sackgasse befindet.
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