Ukrainische Waisen in der SchweizIhre Flucht vor den Russen findet am Genfersee ein Ende
Der Kanton Wallis hat ein Waisenhaus aus Mariupol evakuiert. Nun hilft die ganze Region, damit die entwurzelten Kinder wieder Heimatgefühle entwickeln.
Die Szene erinnert an unbeschwerte Momente in einem Klassenlager. Eine Gruppe Mädchen hüpft ausgelassen die Treppe hinunter. Alle tragen den gleichen blauen Pullover. Sie lachen laut. Aber wirklich unbeschwert? Die Lebensrealität dieser Mädchen ist eine andere, als es in diesem Moment den Anschein macht.
Die Mädchen mit den blauen Pullovern sind Teil einer Gruppe ukrainischer Waisenkinder. In der Stadt Mariupol lebten sie im Heim «Flügel der Hoffnung», bis die russische Armee am 24. Februar die Ukraine angriff. 99 Kinder und 8 Begleiter flohen zunächst in die Stadt Saporischschja und von dort weiter nach Polen.
«Der schönste Moment für mich ist es, mit meinen Brüdern und Schwestern in den Schweizer Bergen zu sein.»
In Polen suchte Natalia Lashchevska, die Leiterin des Waisenheims, verzweifelt eine neue Bleibe – und fand sie in der Schweiz. 60 Waisenkinder zwischen sieben und achtzehn Jahren leben seit neun Monaten im Walliser Örtchen St-Gingolph am Ufer des Genfersees in einer ehemaligen Schule für katholische Missionare. Die allerjüngsten Kinder kamen in einem Heim im waadtländischen Pompaples unter. Sie sind zwischen ein und sieben Jahre jung.
Auch die 16-jährige Lena kam nach St-Gingolph. In einem Bastelraum arbeitet sie gerade an einer Collage. Im Beisein einer Psychologin klebt sie Bilder zum Thema «Sehnsucht» auf ein grosses Blatt Papier. Sie hat eine Aufnahme des Eiffelturms ausgewählt und eine Gruppe Tänzer. «Ich möchte gerne reisen, zum Beispiel nach Paris, und ich mag Modern Dance», kommentiert Lena ihre Bildwahl. Auf ihre Collage hat sie auch ein Bild mit ihren Brüdern und Schwestern geklebt. Wie Lena leben sie alle in der Schweiz. Lena sagt: «Der schönste Moment für mich ist es, mit meinen Brüdern und Schwestern in den Schweizer Bergen zu sein. Ich liebe die Schweiz.»
«Einzelne Kinder haben das Gefühl, von ihren Eltern verraten worden zu sein.»
Über das Schicksal der Kinder spricht Heimleiterin Natalia Lashchevska offen. Sie sagt: «Die Kinder wurden mehrmals entwurzelt: von ihren Familien und durch den Krieg nun von ihrem Heimatland. Einzelne Kinder sind keine Waisen, aber ein Zusammenleben mit ihren Eltern war nicht mehr möglich. Darum haben sie das Gefühl, von ihren Eltern verraten worden zu sein.» Wichtig sei ihr immer gewesen, dass die Kinder ihre Kontakte zu Brüdern und Schwestern pflegen könnten, sagt die Heimleiterin. Das sei jetzt auch in der Schweiz möglich. Jeweils am Wochenende besuchen die Kinder aus St-Gingolph ihre kleinen Geschwister in Pompaples. Bei jedem Besuch tauschten die Geschwister kleine Geschenke aus, um auch unter der Woche miteinander verbunden zu bleiben, sagt Natalia Lashchevska. Trotz der Nähe und des Miteinanders: Viele Kinder leiden an emotionalen Störungen. Auch Tiertherapien mit Hunden und Pferden helfen bei der Bewältigung psychischer Probleme.
Wunderbar und zugleich traurig
Dass die Waisenkinder heute auf Walliser Boden am Genfersee leben, ist für den Walliser Staatsrat und Sozialdirektor Mathias Reynard (SP) eine wunderbare Sache. Eine wunderbare Sache – in einem höchst traurigen Kontext.
Begonnen hat alles mit einem Telefonanruf. Eine in der Romandie bekannte humanitäre Helferin kontaktierte den Walliser Staatsrat im Frühjahr 2022 und fragte Reynard, ob er in seinem Kanton Möglichkeiten sehe, Waisenkinder aufzunehmen.
«Genau in solchen Situationen kann man als Staatsrat viel bewirken.»
Zuerst war von «ein paar Kindern» die Rede. Am Ende war klar, dass in diesem Heim 60 Kinder und Jugendliche lebten. Für ihn sei sogleich klar gewesen, dass er handeln müsse, so Reynard. «Genau in solchen Situationen kann man als Staatsrat viel bewirken, aber gerade im Fall von Kindern muss man eben auch besonders vorsichtig sein», sagt er. Allein habe er aber sowieso nichts entscheiden können.
Der Zufall wollte es, dass die Walliser Dienststelle für Asyl in St-Gingolph just im Augenblick, als die Anfrage kam, überprüfte, ob der Kanton das grosses, leer stehende «Missionarshaus» als Asylunterkunft nutzen könnte. Ein Haus in ruhiger und sicherer Umgebung.
Die Asylbehörde gab grünes Licht. Auch die Spitalverantwortlichen signalisierten, man sei bereit, sich um die physische und psychische Gesundheit der Waisenkinder zu kümmern. Am Ende gab auch der Walliser Staatsrat als Ganzes sein Einverständnis, das Heim aus Mariupol an den Genfersee zu evakuieren.
Reynard sagt: «Die Idee war, dass die Direktorin des Heims die Institution in der Schweiz so weiterführt wie in der Ukraine, auch wenn natürlich Anpassungen an die Schweizer Anforderungen nötig waren.» Die Heimleiter sollten Angestellte des Kantons werden. Der Bund sorgte schliesslich dafür, dass sämtliche Kinder und Betreuungspersonen in einem Flugzeug von Polen nach Genf fliegen konnten.
Support kam auch vom Staatssekretariat für Migration (SEM). Sprecher Samuel Wyss sagt: «Das SEM hat die Einreise und die Registrierung aller Waisenkinder in Zusammenarbeit mit der ukrainischen Botschaft und den Kantonen koordiniert und unterstützt.» Das SEM habe die Einreisen bewilligt, die Registrierungen und die Erteilungen des S-Status durchgeführt und darüber hinaus sichergestellt, dass alle Kinder parallel auch vom ukrainischen Konsulat in der Schweiz registriert wurden, so Wyss.
Auch andernorts in der Schweiz leben ukrainische Waisenkinder. Gemäss Gundekar Giebel, Sprecher der Berner Gesundheitsdirektion, sind es im Kanton Bern «141 Kinder und Jugendliche mit speziellen Bedürfnissen». Rund 50 von ihnen sind in der Gemeinde Münsingen auf der Schwand untergebracht. Dort werden sie von einem Pädagogenteam betreut. Gemäss Giebel werden die Kinder halbtags von der Ukraine aus in Fernkursen unterrichtet. Den anderen Teil ihres Schulunterrichts bekommen sie vor Ort in der öffentlichen Schule, wo sie verschiedene Fächer besuchen und dabei auch Deutsch lernen sollen. In ihrer Freizeit unternehmen sie Ausflüge in die Region.
Waisenheimleiterin Natalia Lashchevska ist der Schweiz für ihre Hilfe zutiefst dankbar. Sie sagt: «Als ich in Polen von einer grossen Delegation Schweizer Helfer empfangen wurde und mit meinen Kindern ins Flugzeug nach Genf stieg, konnte ich mich zum ersten Mal nach dem russischen Angriff entspannen.» Nun habe man im Unterwallis «perfekte Bedingungen», eine ganze Region stehe an der Seite der Kinder. Es gibt solche, die jeden Mittwoch mit dem Skiclub Ski fahren gehen. Andere kicken im lokalen Fussballclub, spielen Basketball oder gehen eislaufen. Und immer wieder unternimmt das Heim Ausflüge in die Region. Längst sind auch Freundschaften zwischen ukrainischen und Unterwalliser Kindern entstanden.
Mathias Reynard sagt: «In der riesigen humanitären Katastrophe dieses Krieges ist das Waisenhaus in St-Gingolph eine kleine, aber konkrete Geste und auch symbolisch wichtig.» Er sehe, wie sich die Kinder und Jugendlichen Schritt für Schritt integrierten, wie die Jüngeren nun schon zur Schule gingen, manche im Waisenheim selbst, andere in Schulen in der Region, wie sie Französisch lernten und die Älteren sich in Berufsschulen für eine mögliche Ausbildung vorbereiteten. Bei alldem sind auch pensionierte Walliser Lehrer im Einsatz. Die Kinder werden zudem im Fernunterricht von der Ukraine aus unterrichtet.
Das Waisenhaus in Mariupol, die einstige Heimat der Kinder, ist längst im Krieg zerstört worden. Es liegt in Trümmern. Auch darum sagt Natalia Lashchevska: «Wir sind in der Schweiz, um die künftige Generation auf den Wiederaufbau der Ukraine vorzubereiten.»
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