Flucht vor dem KriegAus dem Luftschutzkeller ins Kandertal
Sie wissen, was Krieg und Flucht bedeutet, sie hören jeden Tag die Sirenen des Bombenalarms. Jetzt aber kommen die Kinder einer ukrainischen Waisenhausstiftung in die sichere Schweiz.
«Die Sirene!» Marijana Romaniak unterbricht ihre Erzählung, wird leicht blass im Gesicht: «Luftalarm, wir müssen in den Keller.» Die Sirene ist im Zimmer nicht zu hören, aber sie wird auf dem Mobiltelefon der jungen Ukrainerin angezeigt. Mit ihr laufen mehrere junge Frauen und Kinder in die Tiefgarage des Neubaus am Rand der westukrainischen Stadt Lwiw (Lemberg).
Auch wenn die Garage nicht sehr tief liegt, muss sie doch in diesen Kriegstagen als provisorischer Luftschutzkeller dienen. Zwischen den abgestellten Autos hat man Paletten mit Kissen gelegt, als Sitzgelegenheiten. «Wir werden hier wohl wieder ein paar Stunden verbringen müssen», fürchtet Marijana Romaniak: «So geht es jetzt jeden Tag.»
Die 32-jährige Romaniak leitet in Lwiw die «Foundation Ridni», eine vom reichen ukrainischen Unternehmer Juri Fedoriw gegründete Stiftung für ukrainische Waisenkinder. Lwiw liegt nicht direkt im Kriegsgebiet. Aber von Zeit zu Zeit schiessen die Russen auch Raketen auf dieses städtische Zentrum der Westukraine. Ausserdem ist die Bevölkerung hier von ursprünglich 700’000 durch den Flüchtlingsstrom aus dem Osten auf knapp eine Million Menschen gewachsen.
Weil das Leben in ständiger Bedrohung durch Luftschläge gerade für psychisch ohnehin labile Waisenkinder zur enormen Belastung geworden ist, hat die Ridni-Stiftung beschlossen, ihre Schützlinge ins Ausland zu evakuieren. Eine grössere Gruppe konnte Ende Februar nach Polen ausreisen. Dort sind die Kinder, Jugendlichen und ihre Betreuer in einem Schlosshotel nahe der weissrussischen Grenze untergebracht. «Aber auch dort scheint uns jetzt die Lage zu unsicher», sagt Romaniak.
Suche nach einem sicheren Platz
Die verbalen Attacken von Wladimir Putin gegen Polen steigern die Anspannung im Land. Ein russischer Angriff auf das Nato-Mitgliedsland erscheint ihr nicht mehr ausgeschlossen. «Rund um unsere Unterkunft sehen wir immer mehr Militär», so Romaniak: «Soldaten der Nato, aber auch von der polnischen Territorialverteidigung.» Also sucht Romaniak für ihre Waisenkinder einen sicheren Platz – und findet ihn nun in der Schweiz.
Diesen Samstag besteigt eine erste Gruppe von Kindern und Betreuerinnen in Polen einen Reisebus. Das Ziel ist Kandersteg im Kanton Bern. Sonntagmittag sollen sie eintreffen. Vorerst werden sie Quartier im «Scout Center» am Ende des Kandertals nehmen. In einigen Wochen soll aber das besser geeignete und zuvor in Konkurs gegangene Hotel «Gemmi-Lodge» für die Bedürfnisse der Gruppe adaptiert sein. Der neue Eigentümer vermietete es langfristig an den Kanton.
Verzögerte Hilfe
Initiiert wurde die Aufnahme der Waisenkinder durch in der Schweiz lebende Russinnen und Ukrainerinnen. Geholfen hat auch der persönliche Kontakt zwischen dem auf Zypern lebenden Stiftungsgründer Fedoriw und dem Zürcher FDP-Nationalrat Hans-Peter Portmann. Der Hilferuf aus der Ukraine kam Mitte März, und zu Beginn schien alles sehr schnell zu gehen: «160 ukrainische Waisenkinder kommen ins Dorf», meldete die «Jungfrau-Zeitung» am 16. März und kündigte die Ankunft in Kandersteg mit «nächsten Montag» an. Das erwies sich doch als etwas zu optimistisch, sowohl was die Anzahl der Kinder als auch das Datum betraf.
Tatsächlich kamen erst einmal die Stiftungsleiterin Romaniak und eine Kollegin nach Bern und wurden dort von einem Fototermin mit Ignazio Cassis überrascht. «Für mich war das Treffen mit dem Bundespräsidenten ein gutes Zeichen» erinnert sich Romaniak: «Die Schweiz will uns also wirklich helfen.» Der anschliessende Besuch bei der zukünftigen Unterkunft in Kandersteg verlief aber dann gar nicht so wie erwartet: Romaniak wollte wissen, wie ihre Schützlinge verpflegt würden, wo sie zur Schule gehen könnten, ob es auch psychologische Betreuung gäbe. Von der Gemeinde Kandersteg kamen wenige Antworten.
Romaniak flog zurück nach Polen. Beide Seiten, Ukrainerinnen und Schweizer, fühlten sich nicht genug gewürdigt. Es brauchte erst einen weiteren Besuch der Ukrainerinnen, dieses Mal gemeinsam mit dem Stiftungsgründer, um das Projekt zu retten. Freilich in verkleinertem Umfang.
«Vielleicht können wir schon diesen Sommer in die Ukraine zurückkehren.»
Nach Kandersteg kommen am Sonntag nun 23 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 4 und 18 Jahren sowie zehn Betreuerinnen. Es wird Schul- und Kindergartenplätze geben sowie psychologische und medizinische Betreuung.
Darüber, wie lange die ukrainischen Waisen in der Schweiz bleiben werden, gehen die Meinungen auseinander. Marijana Romaniak glaubt, «dass wir vielleicht sogar schon im Sommer in die Ukraine zurückkehren können». Hans-Peter Portmann hingegen sieht Kandersteg als Pilotprojekt: «Wenn das gut kommt, denkt der Stiftungsgründer daran, mit einer neuen lokalen Stiftung eine Infrastruktur speziell für ukrainische Waisenkinder in der Schweiz aufzubauen.»
Die Mutter wurde erschossen
Es gäbe tatsächlich grossen Bedarf an weiteren Plätzen in Sicherheit. Die Ridni-Stiftung hat zwar einen Teil ihrer Schützlinge bereits ins Ausland evakuiert. Doch ihre Plätze haben nun Waisenkinder eingenommen, die direkt aus den umkämpften Städten im Osten kommen. Jene Kinder, die mit Marijana Romaniak in den Luftschutzkeller laufen, kommen aus Charkiw, Odessa oder Mariupol und haben dort nicht nur Alarm, sondern direkten Beschuss durch Granaten und Raketen erlebt. Romaniak zeigt auf ein Mädchen in grauem Sweater, das sich ängstlich an die Hand ihrer Betreuerin klammert: «Sie ist erst vor wenigen Tagen aus Mariupol zu uns gekommen. Sie weiss noch nicht, dass ihre Mutter dort von einem russischen Scharfschützen erschossen wurde.»
In der zentralen Anlaufstelle für Flüchtlinge, dem ehemaligen Kulturpalast von Lwiw, berichtet die freiwillige Helferin Lilija Popowitsch, dass mit den Zügen aus dem Osten der Ukraine immer mehr Kinder ohne Eltern ankommen würden: «Wir finden sie auf dem Bahnhof oder in den Supermärkten, wo sie auf dem Boden vor Erschöpfung einschlafen.»
Nicht nur die Kinder sind durch die Kriegserlebnisse extrem belastet. «Es gibt in Lwiw sehr viele junge Menschen, die als Freiwillige in der Flüchtlingshilfe arbeiten und ständig unfassbare Geschichten von Gewalt und Tod hören», berichtet die in Lwiw lebende Psychologin Viktoria Sluscharenko: Jetzt, im zweiten Kriegsmonat, geraten auch die Helferinnen und Helfer an ihre Grenzen. Sie sind völlig überfordert, sie stehen vor dem Burn-out.»
Sluscharenko hat deshalb eine Gruppe gegründet, die Supervision anbietet. Auch den Betreuerinnen der Ridni-Stiftung. Es ist eine der vielen privaten Initiativen in Lwiw, mit denen die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt ihren Beitrag in der Krise leisten wollen. «Jeder macht das, was er am besten kann», sagt Sluscharenko.
Furcht vor dem Ausland
In der Tiefgarage unter der Ridni-Stiftung in Lwiw zeigen die Mobiltelefone der Betreuerinnen nach etwa einer Stunde Entwarnung an. Die Gefahr ist vorerst gebannt, eine russische Rakete schlug zwar ein, aber weit weg, in einer anderen Stadt. Kinder und Erwachsene können wieder ins Freie.
Marijana Romaniak erzählt, dass ihre neuen Schützlinge, die Kinder und Jugendlichen aus dem Kriegsgebiet, trotz der Gefahr ihr Land nicht verlassen wollten: «Sie waren noch nie im Ausland, sie fürchten sich davor. Lwiw ist schon sehr westlich und trotzdem noch in der Ukraine. Hier fühlen sie sich wohl.» Die Stiftungsleiterin bereitet dennoch Evakuierungspläne vor. Niemand könne wissen, ob Russland nicht bald die Westukraine angreife, «und dann müssen wir bereit sein».
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