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Italiens Regierungskrise
Giuseppe Conte tritt in die Finsternis

Auf ein Wiedersehen? Giuseppe Conte ist zurückgetreten, eine Rückkehr ins Amt ist aber das wahrscheinlichste Szenario. 
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Die Italiener haben sich daran gewöhnt, dass Giuseppe Conte vor allem nachtaktiv ist. Ministerratssitzungen? Berief er oft am späten Abend ein. Neue Dekrete mit Massnahmen gegen Corona? Auch mal um 2 Uhr morgens, mit Liveschaltung. Auch der erste Entwurf des Wiederaufbauplans für die Zeit nach der Pandemie legte er vor, da schliefen die allermeisten Italiener. Und so war es doch einigermassen ungewöhnlich, dass nun die ganze Liturgie seines Rücktritts als Premier am helllichten Tag passierte – an einem prächtigen, sonnenüberfluteten römischen Mittag nach tagelangen Regengüssen, der Tiber war schon bedrohlich über die Ufer getreten. Ganz passend.

Eine halbe Stunde nur dauerte Contes Unterredung mit Staatspräsident Sergio Mattarella, der nun die Parteien Corona-konform in Videokonferenzen konsultieren wird – eine nach der anderen, ab Mittwochnachmittag. Und sollte er dabei den Eindruck gewinnen, dass Conte Chancen hat, eine breite Mehrheit im Parlament hinter sich zu scharen, würde er ihm einen neuen Regierungsauftrag erteilen. So läuft das formelle Prozedere, vordergründig also sehr geordnet.

Und die Impfkampagne? Das Fernsehen beschwichtigt

Italien steckt in einer ausgewachsenen Regierungskrise, bei der sich noch immer viele fragen, was sie eigentlich soll, und die nun «al buio», im Dunkeln, gelöst werden soll. Ohne klar absehbaren Ausgang also. Man nennt sie auch «La crisi più folle di sempre», die verrückteste Krise aller Zeiten, was angesichts der Häufung von Regierungskrisen in der republikanischen Geschichte Italiens ein bemerkenswertes Prädikat ist. Am Fernsehen versichern die Moderatoren, dass die Wirren im Palazzo die Impfkampagne nicht bremse, die hänge nicht von der Politik ab, von den Parteien und ihren zuweilen rätselhaften Beweggründen, von List und Lust an der Macht. Und diese Versicherung ist offenbar nötig.

Drei Szenarien sind nun möglich, hier geordnet nach Wahrscheinlichkeit, von hoch bis niedrig, wobei die ersten zwei je noch Raum für Varianten offenlassen.

Conte III und «Ursula»

Sind die alten Verbündeten auch die neuen? Matteo Renzi als böser Engel, der Sozialdemokrat Nicola Zingaretti (l.), Luigi Di Maio von den Cinque Stelle (r.) und Giuseppe Conte – ein Graffito eines Street-Art-Künstlers in Rom. 

Giuseppe Conte schafft es in den kommenden Tagen, genügend Unterstützung für eine neue Regierung zu mobilisieren, womöglich auch von Überläufern aus der Opposition. Der parteilose Anwalt regiert Italien seit Juni 2018, zunächst als Mittler einer Koalition aus Cinque Stelle, denen er nahesteht, und der rechten Lega von Matteo Salvini. Auf Conte I folgte im Sommer 2019, nach Salvinis Selbstdemontage, Conte II, an dem neben dem sozialdemokratischen Partito Democratico, den linken Liberi e Uguali auch Matteo Renzis Italia Viva teilnahm.

Nach Renzis Bruch fehlen Conte nun die nötigen Stimmen für eine absolute Mehrheit im Parlament, im Senat hätte dem Premier schon diese Woche der Sturz gedroht. Für ein Conte III wird er versuchen, die «Renzianer» möglichst mit Senatoren aus dem Zentrum zu ersetzen, damit er nicht mehr von Italia Viva abhängt. Infrage kommen Christdemokraten ohne feste Heimat und Mitglieder von Silvio Berlusconis Forza Italia. Etwa 16 Helfer braucht er dafür. Im Senat haben die ersten schon eine Gruppe geformt: Sie wollen sich als «Responsabili» verstanden wissen, als Verantwortungsvolle. Posten sind genügend vorhanden, um alle glücklich zu machen: 73 Staatssekretäre und Minister zählt die Regierung, fast alles ist verhandelbar.

Möglich wäre aber auch, dass Italia Viva nun, da Conte mit seinem Rücktritt ein Signal der Wende gesetzt hat, wieder mitmachen würde. Mit einem neuen Programm und einem Pakt für den Rest der Legislaturperiode. Gelänge diese Grossvermengung, hätte Conte III gute Aussichten, bis 2023 durchzuregieren. Eine Premiere wäre sie nicht: Bei der Wahl von Ursula von der Leyen zur EU-Kommissionspräsidentin spannten ebendiese Parteien zusammen. Seitdem nennt man sie die «Ursula-Mehrheit».

Theoretisch möglich wäre auch «Ursula» ohne Conte. Für diesen eher unwahrscheinlichen Fall werden der Sozialdemokrat und Kulturminister Dario Franceschini oder Aussenminister Luigi Di Maio von den Fünf Sternen als Premier gehandelt. Conte befürchtet offenbar, dass er ohne eigene Hausmacht Gefahr läuft, in der Krise politisch geopfert zu werden. Aber eben: Wie opfert man einen Premier mit einer Popularität von 55 Prozent? Ausserdem haben seine wichtigsten Bündnispartner bis jetzt immer beteuert, dass er ihr Mann sei. «Ursula» ohne Conte gilt als Wunschvorstellung von Matteo Renzi.

Grosse Koalition

Prominent und parteilos: Mario Draghi, früherer Chef der Europäischen Zentralbank, wäre ein möglicher Premier einer Technikerregierung.

Scheitert Conte, könnte Staatschef Mattarella auf die Bildung einer sehr breiten, lagerübergreifenden Grossen Koalition der nationalen Einheit drängen, die sich ganz dem Management der Pandemie und der sozialen und wirtschaftlichen Folgekrisen widmen würde. Die Leitung einer solchen Regierung fiele dann allerdings keinem Politiker zu, sondern einem sogenannten Techniker.

Genannt werden vor allem zwei Namen, ohne dass klar ist, ob sie jemals angefragt worden sind: Mario Draghi, der frühere Präsident der Europäischen Zentralbank, und Marta Cartabia, die ehemalige Vorsitzende des Verfassungsgerichts. Für eine solche Option liessen sich Renzi und Berlusconi gewinnen, vielleicht auch die Lega. Doch solange eine politische Lösung möglich ist, werden die Parteien des Conte II versuchen, eine «Grosse Koalition» zu verhindern – notfalls auch mit einem halben Kniefall vor Renzi.

Vorgezogene Neuwahlen

Wählen in Zeiten von Corona? Nicht nur deshalb sind viele Parlamentarier gegen eine frühzeitige Auflösung der Parlamentskammern. Im Bild ein Wahllokal in Salerno bei den kampanischen Regionalwahlen im Herbst 2020.

Ausser der Rechten, der man in Umfragen einen Wahlsieg voraussagt, will niemand ein vorzeitiges Ende der Legislaturperiode. Zwei Jahre Amtszeit bleiben übrig. Viele Parlamentarier fürchten um ihren Sitz in den dannzumal verkleinerten Kammern: Nach der neulich verabschiedeten Reform gibt es nur noch 600 Mandate zu vergeben statt wie bisher 945. Ausserdem ist in einem Jahr die Wahl des neuen Staatschefs fällig. Würde nun bald neu gewählt und gewänne tatsächlich die Rechte, hätte die auch gute Chancen, den Staatspräsidenten zu stellen. Das wird die Linke verhindern wollen. Allerdings müssten die Kammern dafür sehr bald aufgelöst werden: Im Juli beginnt nämlich das sogenannte Weisse Semester, das Halbjahr vor der Wahl des Präsidenten. Und in diesem «Semestre bianco» dürfen keine Neuwahlen veranstaltet werden, so steht es in der Verfassung.

Oder anders: Hangelt sich Conte irgendwie durch bis zum Sommer, wird Horizont 2023 plötzlich greifbar. Als Premier mit der nunmehr dritten unterschiedlichen Mehrheit. Das hat vor ihm noch niemand geschafft, nicht einmal in Italien.