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Regierungskrise in Italien
Renzis toxischer Poker mitten in der Pandemie

Ein Politiker mit schnellem Mundwerk: Matteo Renzi, Chef der Kleinpartei Italia Viva.
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Wenn Matteo Renzi mal wieder der Sinn nach einer Zurechtrückung der Geschichte steht, sagt er gern: «Ich war Premier für mehr als tausend Tage.» Più di mille giorni. Die Tagesstatistik hat den Vorteil, dass sie einigermassen bombastisch klingt. Sie erlaubt aber auch eine bessere historische Verortung der Protagonisten im stetig unsteten Leben italienischer Regierungen.

Viele Kabinette überlebten gerade mal knapp den Hauch ihrer Ankündigung, zumal früher, in der Ersten Republik. Im Fall von Renzi, Präsident des Ministerrats vom 22. Februar 2014 bis zum 12. Dezember 2016, kamen genau 1024 Regierungstage zusammen. Man könnte auch sagen: weniger als drei Jahre.

Auf der Rangliste der Ausdauerndsten seit 1946 ist er Zehnter. Giuseppe Conte, sein Rivale und Alliierter, steht an elfter Stelle, mit nunmehr 958 Tagen. Fast tausend, aufgeteilt auf zwei Regierungen, Conte I und Conte II. Ein paar Monate noch, so ihm die gegönnt sind, dann hat er Renzi eingeholt. Und Renzi entscheidet wohl, ob er das schafft.

Alte Mehrheit könnte auch die neue sein

Nun wäre es natürlich unfair, dem 46-jährigen Florentiner vorzuwerfen, er dränge allein aus persönlicher Antipathie die Regierung Contes an den Rand des Absturzes, wie er das mit dem Rückzug seiner beiden Ministerinnen aus dem Kabinett nun getan hat. Mitten in der Pandemie. Und zur Verwunderung oder zum Zorn, je nach politischer Neigung, von siebzig Prozent der Italiener, wie eine Umfrage der Zeitung «La Stampa» ergeben hat.

Seine artikulierte Kritik an Contes erstem Entwurf für einen Recovery Plan mit den 209 Milliarden Euro aus dem Topf der Europäischen Union wurde von vielen Sozialdemokraten in der Regierung geteilt. Und sie hat immerhin dazu geführt, dass im zweiten Entwurf viele Punkte verbessert wurden: Es gibt darin mehr Aufwendungen für das Gesundheitswesen, die Kultur, die Bildung und mehr langfristige Investitionen statt nur Boni und Zuschüssen.

In normalen Zeiten mögen die Italiener ausgebuffte Politiker. Doch das sind keine normalen Zeiten.

Doch persönliche Aspekte lassen sich nun mal schwerlich aus dieser Geschichte heraushalten – gerade jetzt nicht, da einige Tage lang in den Hinterzimmern der römischen Palazzi, in mehr oder weniger grossen Gruppen, in mehr oder weniger heiliger Absicht, eine neue Regierungsmehrheit gesucht und geschustert wird: mit Posten und Konzessionen.

Gut möglich, dass am Ende die alte Mehrheit auch die neue sein wird, dass also das heterogene Bündnis aus der früheren Protestbewegung Cinque Stelle, dem sozialdemokratischen Partito Democratico, der linken Partei Liberi e Uguali und Renzis sozialliberaler Italia Viva weiterregiert – vielleicht mit einem Pakt bis zum Ende der Legislaturperiode 2023. Jedenfalls hat Renzi diese Möglichkeit bei seinem Halbbruch nicht ausgeschlossen. Selbst eine Handreichung für ein Conte III liegt drin, falls sich der seinen Forderungen beugt.

Alles ist offen, das ganze Spiel um die Macht, und mittendrin steht Matteo Renzi in hoch toxischer, aber imminent zentraler Rolle. Er wird oft mit einem Pokerspieler verglichen, das Bild missfällt ihm wahrscheinlich nicht. In normalen Zeiten mögen die Italiener ausgebuffte Politiker, Taktik gilt als Kunstform. Doch das sind keine normalen Zeiten.

Rivale und Verbündeter von Matteo Renzi: Ministerpräsident Giuseppe Conte.

Bekannt wurde Renzi als junger Bürgermeister von Florenz, ab 2009. Er war einer, der den Bildschirm löcherte, wie die Italiener sagen, wenn jemand am Fernsehen gut rüberkommt: voller Drive und Dynamik und mit schnellem Mundwerk. Die Bühne wurde bald grösser, national. Der Zentrist aus der katholischen Pfadfinderbewegung nahm den Partito Democratico im Sturm, was vor allem den Postkommunisten darin nur leidlich gefiel, er versprach die «Verschrottung» der alten Garde. Er wurde Premier und führte die Partei kurz darauf bei den Europawahlen zum besten Resultat ihrer Geschichte: 40,8 Prozent. Auch diese Zahl wiederholt er gern.

Danach ging es nur noch runter. In der Wahrnehmung der Italiener kippte sein Selbstvertrauen in Selbstgefälligkeit, die Hochzeitsreise war schnell vorbei. Im Dezember 2016 scheiterte er dann mit seiner grossen Verfassungsreform und trat zurück. Zum ersten Mal hatte er zu hoch gepokert: Er stilisierte das Referendum zu einer Abstimmung über seine Person, geblendet von Hybris.

Eigentlich wollte er damals auch die politische Bühne verlassen, weggehen, nach Amerika, er hatte drei Jobangebote. Das tat er aber nicht. In einem Interview mit dem Magazin «Sette» sagte Renzi neulich: «Ich bedauere nur etwas, ich hätte damals wirklich den Platz räumen sollen.» Wenigstens für eine Weile, vielleicht hätte man ihn dann vermisst. Doch die Partei bat ihn, zu bleiben. Und so blieb er. Etwas bitter, als ausrangierter Premier, als «Has-been», viel zu jung für den Ruhestand.

Bei den Wahlen 2018 wurde Renzi in den Senat gewählt, da sitzt er nun. Als früherem Regierungschef steht ihm ein schönes, grosses Büro mit Vorzimmer im prächtigen Palazzo Giustiniani zur Verfügung, aber das ist ein schwacher Trost.

Renzi half Conte, Salvini zu stürzen

Über den Rechtsprofessor und Anwalt Giuseppe Conte aus dem süditalienischen Apulien, der vor zweieinhalb Jahren völlig zufällig und als totaler Unbekannter Premier einer Regierung von Cinque Stelle und der rechtspopulistischen Lega wurde, war seine Meinung schnell gemacht. «Conte ist der unfähigste Premier, den dieses Land je erlebt hat», sagte er einmal. Er nannte ihn auch «Vize seiner Vizes» Luigi Di Maio und Matteo Salvini, «Sprecher seines Sprechers», «Aspirant für die Wettersendung am Fernsehen».

Nach solchen Sprüchen wird man wohl nie mehr Freunde, ihre Temperamente kollidieren frontal. Doch dann nahm die Geschichte eine Wende, wie sie wohl nur in Italien möglich ist. Im Sommer 2019, als der plötzlich populär gewordene Salvini von Allmachtsfantasien umnebelt war, fand Renzi zurück an den vorderen Rand der Bühne. Er half dabei, Salvini zu stürzen, er gab gar den wichtigsten Stoss dazu. Und mit einer feinen taktischen Volte bereitete er dem gering geschätzten Conte zu einer zweiten Regierung, die er auch noch gelobte zu unterstützen – missliebig zwar. Aber in den wichtigen Momenten war Italia Viva immer loyal.

Die beiden Neualliierten mieden sich ein volles Jahr lang, man traf sich nie persönlich. Bis vergangenen November. Da lud Conte Renzi und andere Parteichefs der Koalition ein in seine Wohnung im Palazzo Chigi, dem Regierungssitz. Als Renzi den Palast verliess, standen Journalisten am Tor, einer fragte ihn: «Und, haben Sie Ihre Meinung über Conte revidiert?» Darauf Renzi: «Nein, aber ich habe eine Qualität an ihm entdeckt: Er kann gut einrichten, die Möbel in der Wohnung glänzen wie neu, alles steht an seinem Platz – bei mir war immer Chaos.» So wird das wohl nie mehr gut.