Aufstand in Serbien«An euren Händen klebt Blut»: Studierende rufen zum Generalstreik auf
Die Protestwelle gegen die mutmasslich korrupte Führung unter Präsident Aleksandar Vucic erreicht am heutigen Freitag einen vorläufigen Höhepunkt.
- Vucic besucht das WEF und vermeldet Erfolge, ohne Details zu nennen.
- Proteste gegen sein Regime dauern an.
- Demonstrierende fordern Aufklärung für das Unglück in der Stadt Novi Sad, bei dem 15 Menschen starben.
- Eine Gegenkundgebung soll von Skandalen ablenken.
Aleksandar Vucic war diese Woche beim WEF in Davos, wie so viele Politiker aus der ganzen Welt. In mehreren Interviews mit serbischen Medien erklärte der Staatspräsident, er habe im Schweizer Alpendorf wichtige Treffen gehabt, viel gelernt und grosse Erfolge erzielt. Bald würden in Serbien zehn Fabriken eröffnet. Details nannte er nicht.
In einem Video, das er am frühen Donnerstagmorgen aus Klosters auf Instagram postete, sagte Vucic, er könne es kaum erwarten und sei überglücklich, nach Serbien zurückzukehren. Einen Grund zur Eile hatte er durchaus. Die von Studierenden und Mittelschülern angeführten Proteste gegen sein Regime ebben seit Wochen nicht ab, überall im Land entlädt sich aufgestaute Wut. (Lesen Sie hier das Interview mit Politologin Aleksandra Tomanic).
«Nehmen wir die Freiheit in unsere eigenen Hände!»
Für heute Freitag haben die Studenten zu einem Generalstreik aufgerufen. Auch Lehrer, Anwälte, Aktivisten der Zivilgesellschaft, unabhängige Medien und Kulturschaffende wollen sich dem zivilen Ungehorsam anschliessen. «Wir gehen nicht zur Arbeit, wir besuchen keine Vorlesungen, wir erledigen keine alltäglichen Pflichten. Nehmen wir die Freiheit in unsere eigenen Hände!», schrieben die Studenten auf Instagram.
Auslöser der jüngsten Protestwelle war eine Tragödie am 1. November des vergangenen Jahres: In der nordserbischen Stadt Novi Sad stürzte ein Bahnhofsvordach ein und riss 15 Menschen in den Tod. Das Gebäude war erst wenige Monate zuvor renoviert worden. Für viele Bürgerinnen und Bürger besteht kein Zweifel, wer die Schuld für das Unglück trägt: der Autokrat Aleksandar Vucic und seine Regierung.
«Korruption tötet» skandieren die Studenten in serbischen Städten
«An euren Händen klebt Blut» und «Korruption tötet», skandieren seither die Massen in mehreren serbischen Städten. Renoviert hatte den Bahnhof von Novi Sad eine chinesische Baufirma. Kritiker sprechen von Schlamperei und schmutzigen Deals. Sie fordern eine lückenlose Aufklärung. Ende Jahr wurde im Eiltempo Anklage gegen 13 Personen erhoben. Unter den Beschuldigten ist auch Ex-Bauminister Goran Vesic, der nach dem Unglück zurückgetreten war.
Die Protestmärsche und Strassenblockaden haben die Regierung in Bedrängnis gebracht. Jeden Tag stehen Menschen auf öffentlichen Plätzen für 15 Minuten still, um der Opfer zu gedenken. Studierende haben fast alle Fakultäten an den drei grössten staatlichen Universitäten blockiert. Sie verlangen unter anderem den Rücktritt des Premierministers und des Bürgermeisters von Novi Sad.
Staatschef Vucic, der sein Land seit 2012 in verschiedenen Funktionen regiert, verliert zunehmend die Contenance. Im Propagandasender Happy TV verbreitete er jetzt die Mär, er könnte Opfer eines Attentats werden. «Es gibt viele gute Gründe, mich zu töten», sagte Vucic, ein Anhänger von Verschwörungstheorien. Zudem unterstellte er den Demonstranten, von ausländischen Geheimdiensten gesteuert zu sein.
Auch Djokovic ist erschüttert
Die Studenten zeigen sich bisher unbeeindruckt. Am Anfang wurden die Proteste von Hooligans gestört, die Verbindungen zur Regierungspartei haben sollen. In letzter Zeit ist es vermehrt zu mysteriösen Zwischenfällen gekommen. Vor einer Woche wurde die 20-jährige Studentin Sonja Ponjavic von einem Auto erfasst, während sie an einer Protestaktion teilnahm. Der Vorfall hat nicht nur in Serbien, sondern auch in der serbischen Diaspora grosse Wut ausgelöst.
Nach seinem Sieg im Achtelfinal der Australian Open in Melbourne solidarisierte sich auch Tennisstar Novak Djokovic mit der verletzten Studentin. «Ich war erschüttert, als ich das Video sah», sagte er vor den Medien. Zuvor war Oppositionspolitiker Dragan Djilas mitten in Belgrad zusammengeschlagen worden. Unter den Schlägern habe sich auch ein Lokalpolitiker der Partei von Präsident Vucic befunden, sagte Djilas.
Vucic sucht händeringend nach einer Antwort, um der Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen. Für heute Freitag hat er eine Gegenkundgebung angekündigt, allerdings nicht in Belgrad oder Novi Sad. Er hat die Kleinstadt Jagodina tief in der serbischen Provinz ausgewählt, um eine «Bewegung für das Volk und den Staat» zu gründen. Ein verzweifelter Versuch, von den vielen Skandalen seiner Regierung abzulenken.
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