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Russischer Aktivist nach Gefangenen­austausch
Die Unfreiheit des Freien

21/08/2024-Weimar: Kunstfest Weimar 2024 / Bauhaus-Museum / Ausstellung „Das andere Russland“ der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“, Rundgang mit Oleg Orlow, Friedensnobelpreisträger 2022, Menschenrechtler und Mitbegründer der Organisation  (Foto: Sascha Fromm / Thueringer Allgemeine)
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In Kürze:
  • Oleg Orlow war in Russland inhaftiert und wurde dann ausgetauscht.
  • Er lebt jetzt in Berlin und hofft, nach Moskau zurückkehren zu können.
  • Orlow kritisiert Putins Regime und arbeitet weiterhin für Memorial.

Der Himmel über Deutschland. Oleg Orlow wollte ihn geniessen, zu lang schon hatte er keinen freien Blick mehr nach oben gehabt. Er sagt: «In den Himmel zu schauen, ist sehr wichtig.» Jetzt war die Gelegenheit da. Orlow legte sich auf den Rasen, ganz lang machte er sich, er streckte die Arme aus und schaute auf das helle Blau und ein paar getupfte weisse Wölkchen. Etwa fünfzehn Minuten lag er so in der wärmenden Sonne, ganz still. Er sagt: «Das war Glück.»

Das war am 2. August in einem kleinen Park am Militärkrankenhaus von Koblenz, wo Orlow untersucht wurde. Es war Tag zwei nach dem grössten Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen seit Ende des Kalten Kriegs. Im russischen Gefängnis hatte Oleg Orlow den Himmel immer nur durch Gitterstäbe und ein kleines Fenster gesehen. Sogar wenn er draussen beim Hofgang war, trennte ihn ein Dach von der Sonne. «Hoch oben», sagt er, «habe ich sie im Gefängnis nie gesehen.»

In seiner Zelle hatte er nicht nur von der Freiheit geträumt, vom Wiedersehen mit seiner Frau, vom Himmel, der Sonne und seiner Datscha im Grünen. Er träumte auch davon, wie es wohl wäre, durch Moskaus Strassen zu spazieren, mal wieder ein gebratenes Stück Fleisch zu essen, ein Glas Rotwein dazu. «Wissen Sie, was das für ein Fleisch ist im Gefängnis?», fragt er, «so ein kleines Stückchen, aufgewärmt, voller Fett?» Als er es dann vor sich hatte, das gute Fleisch und den Wein, sagte er sich, verwundert von der überraschenden Wende in seinem Leben: «Ja, und jetzt bin ich hier und habe das.» Aber für Oleg Orlow ist es das falsche Hier, das falsche Land. Er ist jetzt in Berlin.

Er war Putins Spielball, damit dieser einen Mörder zurückholen konnte

Oleg Orlow, Mitgründer der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, baut sich mit 71 Jahren gerade ein neues Leben auf. Ein Leben, das er nicht will. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit konnte er sich jetzt mal etwas erholen von den Prozessen in Russland, den Verleumdungen, dem halben Jahr in russischer Haft und den Strapazen des Gefangenenaustauschs, der ihn über Moskau, Ankara und Koblenz in die deutsche Hauptstadt brachte. Orlow ist der älteste unter den sechzehn frei getauschten Häftlingen.

Mit seiner Frau, die von Moskau aus angereist ist, war er jetzt zweieinhalb Wochen an einem Ort in einem Land, das er nicht nennen will und das offenbar nicht Deutschland ist. Er suchte Abstand, war angeln, aber es war eben nicht seine Datscha am nordwestlichen Rand von Moskau, in Podmoskowje, wo er früher die Ruhe genoss und im Wald Pilze sammelte. Dorthin zurück kann er jetzt nicht mehr, obwohl er nicht mehr im Gefängnis ist.

Wie gross ist das Glück also, so plötzlich in einem freien, aber fremden Land, wie gross der Schock, ein Spielball Putins zu sein, damit der einen Mörder zurückholen kann, den Geheimdienstler Wadim Krassikow, der im Kleinen Tiergarten einen Tschetschenen erschossen hat?

epa11517347 Russian President Vladimir Putin (C) meets Russian citizens released after the Russian-US prisoner swap in Turkiye at Vnukovo International Airport in Moscow, Russia, 01 August 2024. On August 01, Ankara hosted the Russian-US exchange of 26 individuals held in prisons in the United States, Germany, Poland, Slovenia, Norway, Russia, and Belarus. Ten of the prisoners exchanged, including two minors, went to Russia, 13 to Germany, and three to the US. Those returned to Russia include Artem and Anna Dultsev with their children, Vadim Krasikov, Pavel Rubtsov, Mikhail Mikushin, Roman Seleznev, Vladislav Klyushin, and Vadim Konoshchenok.  EPA/MIKHAIL VOSKRESENSKIY/SPUTNIK/KREMLIN POOL MANDATORY CREDIT  EPA-EFE/MIKHAIL VOSKRESENSKIY/SPUTNIK/KREMLIN POOL MANDATORY CREDIT

Berlin, irgendwo im Zentrum. Oleg Orlow ist in Freiheit, aber wo er sich gerade aufhält, arbeitet, wohnt, darüber soll er kein Aufheben machen. Die Berliner Polizei rät den ausgetauschten russischen Gefangenen zur Vorsicht. Auch der ausgetauschte Oppositionspolitiker Ilja Jaschin lebt inzwischen in Berlin. Orlow sitzt in einem nüchternen Bürogebäude an einem Tisch, daneben steht ein Tischfussballkasten, das muss genügen.

Immerhin kann er jetzt sagen, was er will, ohne Angst, dass maskierte russische Geheimdienstler ihn in seiner Wohnung aus dem Bett klingeln. «Jeden Morgen lag ich da und dachte: Vielleicht kommt jetzt jemand.» Jetzt schläft er wieder ruhiger, kann essen, was er will, und seine Frau sehen, wenn sie von Moskau nach Deutschland kommt.

Orlow war nie wichtig, was der Kreml über ihn sagt

Oleg Orlow hätte es einfacher haben können, er hätte Russland längst verlassen können. Seine Organisation Memorial, die Stalins Verbrechen aufgearbeitet und sich für Menschenrechte eingesetzt hat, stand sei Jahren unter grossem Druck. Das Regime hat sie als «ausländische Agentin» abgestempelt, schikaniert, verklagt und vor drei Jahren liquidiert. Im Herbst 2022 veröffentlichte Orlow einen Artikel, in dem er Putins «blutigen Krieg» gegen die Ukraine verdammte. «Die dunkelsten Kräfte in meinem Land sind diejenigen, die davon träumten, sich für den Zusammenbruch des Sowjetimperiums zu rächen», schrieb er da. Orlow wusste, was so ein Text bedeutet.

Der Kreml wäre wohl froh gewesen, wenn er einfach gegangen wäre. Putin wäre einen seiner bekanntesten Kritiker losgeworden. Orlow wäre dann einer mehr auf der langen Liste derer gewesen, die Moskau als «Verräter» bezeichnet. Aber Orlow war nie wichtig, was der Kreml über ihn sagt. Er ist aus anderen Gründen geblieben.

Rückblende. Ein sonniger Apriltag im vorigen Jahr, ein Wohnblock im Moskauer Norden. Das Wohnzimmer der Orlows ist lichtdurchflutet, rote Vorhänge, viel Holz. Orlow nimmt sich Zeit, obwohl er nicht weiss, wie viel Zeit ihm noch in Freiheit bleibt.

Das Strafverfahren hängt wie eine schwarze Wolke über ihm

Er versucht es mit Humor, erzählt von den Schmierereien an seiner Haustür und von der Wohnungsdurchsuchung morgens um sieben. Die Polizei musste lang klopfen, er und seine Frau lagen noch im Bett. Die Anschuldigungen gegen ihn sind absurd, und Orlow, der Rationale, versucht in langen, ruhigen Antworten, das Ausmass dieses Wahnsinns zu erklären. Aber mit Vernunft kommt man gegen dieses Regime nicht mehr an.

Natürlich weiss Orlow, wie gefährlich das ist. Er will nicht hinter Gitter, hat Angst davor. Aber noch weniger will er sein Leben aufgeben, seine Arbeit, bei der er auch politische Gefangene vor Gericht vertritt. Er hofft, einigermassen glimpflich davonzukommen, vielleicht eine Bewährungsstrafe, in seinem Alter. «Bisher gehe ich davon aus, dass die Arbeit hier schwer und gefährlich ist», sagt er damals an seinem Wohnzimmertisch. «Aber man kann hier noch arbeiten.» Und solange er noch arbeiten kann, will er bleiben. Er plant die nächste Reise als Menschenrechtsanwalt nach Inguschetien.

Ein knappes Jahr später, im Februar 2024, sitzt er im dicken blauen Strickpulli im Gericht, draussen liegt Schnee, drinnen ergeht das Urteil, zweieinhalb Jahre Straflager. Orlow streckt noch tapfer die Arme in die Höhe, damit jeder die Handschellen sehen kann. Acht Sicherheitsleute führen ihn aus dem Gebäude.

Oleg Orlov, the 70-year-old human rights campaigner and co-chair of the Nobel Prize winning Memorial group, is seen handcuffed after being sentenced to two and a half years in jail on charges of repeatedly "discrediting" the Russian army, in Moscow on February 27, 2024. (Photo by Alexander NEMENOV / AFP)

Er hatte sich fürs Bleiben entschieden und damit Gefangenschaft riskiert.

Anfang August hat Russland ihm auch diese Wahl genommen, sie haben ihn aus der Zelle gezerrt, ins Moskauer Lefortowo-Gefängnis verlegt, dann zum Flughafen gebracht, wie die anderen ausgetauschten Gefangenen auch. In Ankara übergibt der russische Geheimdienst sie den westlichen Beamten. Moskau hat Orlow zusammen mit anderen Putin-Gegnern wie Ilja Jaschin, Sascha Skotschilenko, Wladimir Kara-Mursa, Andrei Piwowarow und Lilija Tschanyschewa in die Emigration gezwungen. Orlow muss es hinnehmen.

Fast zwei Monate später hat er sich immer noch nicht eingewöhnt in Berlin. Deutsch will er noch lernen. Einen einzigen freien Tag hat er sich anfangs gegönnt, da fuhr er nach Potsdam in die Ausstellung von Modigliani, der ihn begeistert. Orlow arbeitet jetzt in Deutschland bei Memorial weiter, der Menschenrechtsorganisation. Jetzt fängt sie ihn auf.

Er arbeitet aus der Emigration also weiter mit seinen Kollegen in Russland, mit Menschenrechtlern, Juristen. Es geht um Hilfe für Russen, die aus politischen Gründen verfolgt werden, «mit fabrizierten Anschuldigungen», wie Orlow sagt. Es sind ja noch so viele in Haft. Er will Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus bekämpfen, all das also, was er immer gemacht hat. Aber von Berlin aus ist das schwieriger. Er sorgt sich, dass er das Gespür dafür verlieren könnte, was in Russland vor sich geht, die Stimmung der Menschen. «Über Bildschirme kann man das nicht fühlen. Das ist die Gefahr.» Und sie wächst mit jedem Tag, den er in Deutschland verbringt.

Russian opposition politician Ilya Yashin, right on stage, attends an event with supporters at the Mauerpark in Berlin, Germany, Wednesday, Aug. 7, 2024. (AP Photo/Markus Schreiber)

Es gibt eine kleine Telegram-Gruppe, in der die ausgetauschten Gefangenen miteinander chatten. Orlow macht ab und zu mit. Obwohl sie in derselben Stadt in Deutschland leben, hat er Ilja Jaschin bis jetzt nicht persönlich getroffen. Die Frage beschäftigt sie natürlich alle: Wann können wir zurück? «Wir haben hier schon in den ersten Tagen darüber gestritten.»

Orlow hat es für sich klar definiert: «Zehn Jahre, aber nicht später.» Warum zehn Jahre, kann er nicht sagen, will er vielleicht nicht. Es ist eine lange Zeit, vielleicht möchte er nicht zu viel erwarten. Dass sich nämlich schon bald in Russland etwas ändern müsste, wo Putin doch kraftstrotzend im Amt sitzt. «Ich glaube nicht, dass Putin noch länger an der Macht sein wird», sagt Orlow andererseits, nicht länger als zehn Jahre. «Das Land ist in einer Sackgasse.» Er glaubt an ein neues Russland, das er natürlich noch erleben will. Zehn Jahre, er wäre dann 81. Andere aus der Gruppe der Ausgetauschten hätten ihm allerdings widersprochen und gesagt: «Nein, nein, schon früher.»