Mamablog: Zu Männern erzogenGefangen in der Heteronormativität
Bloggerin Ellen Girod findet, dass Eltern ihre Denkmuster häufiger reflektieren sollten. Und erklärt, warum Zuhören oft der beste Erziehungstrick ist.
Letzten Sonntag am Küchentisch. Mein Kind betrachtet aufmerksam das Cover des «Süddeutsche Zeitung Magazins». Zu sehen sind vier muskulöse Männer in Perlenketten, Stöckelschuhen und bodenlangen Kleidern. Darunter der Schriftzug: «Spanische Flamenco-Tänzer zeigen die Mode der Saison». Das Kind betrachtet die tiefen Ausschnitte, die fliessenden Röcke und die grossen schwarzen Punkte auf ihren Kleidern. Das zweite Kind gesellt sich dazu und beginnt wild zu kichern. Ich beobachte die beiden und rege mich innerlich schon auf: «Krass, das heteronormative Weltbild hat sich schon eingeschlichen. Sicher dank dem Kindsgi.»
Die grosse Feministin Adrienne Rich prägte in den 80er-Jahren erstmals den heute bekannten Begriff Heteronormativität. Ein heteronormatives Weltbild geht davon aus, dass Menschen entweder als Cis-Mann oder Cis-Frau geboren werden (Cis = nicht trans). Es beinhaltet soziale Erwartungen, wie Kinder zu Männern und zu Frauen erzogen werden und wie sie später als Männer und Frauen miteinander leben sollen. Und letztlich auch, dass die einzig «normale» Form von Liebe nur zwischen einem Mann und einer Frau stattfinden kann. Die Heterosexualität – ein unbewusster gesellschaftlicher Zwang.
Schädliche Verherrlichung von Heteroliebe
Die Berliner Politologin und Autorin Emilia Roig schreibt dazu: «Es heisst nicht, dass wir ohne Zwangsheterosexualität alle schwul und lesbisch wären, sondern dass unsere Sexualität viel flexibler wäre – und dass wir uns für homosexuelles Begehren nicht mehr schämen würden.» Roig reflektiert: «Warum stellt es einen Status dar, wen wir lieben und die Art, wie wir lieben? Ledig, verheiratet, geschieden oder verwitwet. Dabei wird das heterosexuelle Paar als die höchste Form von Liebe verherrlicht.»
Roig zeigt auf, dass diese Verherrlichung von Heteroliebe so ziemlich allen schadet. Zum einen stigmatisiert sie die lesbischen, schwulen, trans- und queeren Paare. Aber auch Geschiedene, Patchworkpaare und alleinstehende Heteros kommen bei diesem Denkmuster schlecht weg. Noch heute haben viele erwachsene Frauen das Gefühl, nur mit Mann (und Kindern) etwas wert zu sein. Viele Paare können sich nicht trennen, obwohl sie schon lange nicht mehr glücklich sind in ihren Beziehungen. Aus Angst vor dem Statusverlust durch Alleinsein. Aus Angst als Versagerin zu gelten. Ohne eine Beziehung, die der vermeintlichen «Norm» entspricht, haben viele das Gefühl, unzulänglich und unvollständig zu sein. So als würde einem etwas fehlen, etwas ausserhalb von sich selbst.
Der Partner als Prestigeobjekt
Der Ausdruck «meine bessere Hälfte» suggeriert ja absurderweise, dass der Partner eine Aufwertung von einem selbst liefern soll. «Im Spätkapitalismus neigen wir dazu, andere Körper als Luxusgüter zu betrachten», erklärt die Oxford-Professorin Amia Srinivasan im Interview mit «Das Magazin». Auch hier gehe es um einen Status: Mit einem Unterwäschemodel ins Bett zu gehen, bringe mehr Ansehen als eine Affäre mit einem Behinderten. Je nach Lebensabschnitt stellt der Partner und die Partnerin eine Art Prestigeobjekt dar: jung, vollbusig oder muskulös, teures Auto, Doktortitel, Unternehmer, you name it. Deutlich wird dies, wenn wir betrachten, wie wir über neue Partner von unseren Bekannten reden, da schildern wir oft genau diese Attribute.
Was also tun? Unsere Beziehungen neu denken, wäre eine Möglichkeit. «The Atlantic»-Autorin Rhaine Cohen schlägt etwa vor, dass wir unsere Freundschaften ins Zentrum unserer Leben stellen, statt unsere Ehen. Und Emilia Roig plädiert für Befreiung und dafür, dass wir unsere Definition von Liebe ausweiten: Auf all die Zeit, Aufmerksamkeit, Empathie und Fürsorge, die wir für viele von uns geliebten Menschen aufbringen, statt uns nur auf diesen einen Menschen zu fokussieren. Und weil die sexuelle Orientierung sich im Laufe des Lebens ändern und entwickeln kann, sollen wir sie vielmehr als ein Kontinuum betrachten, statt als einen festgelegten Zustand. Auf diese Weise können wir uns von den engen Kategorien Frau/Mann befreien.
Zuhören statt suggerieren
Ganz so einfach ist es allerdings nicht. Auch wenn viele es sich wünschen würden: Es wäre naiv zu behaupten, man selbst sei komplett frei von Heteronormativität. Denn viele von uns saugten sie bereits als Kinder auf und geben sie unbewusst an ihre Kinder weiter. Sei es an werdende Eltern mit der Frage: «Wisst ihr schon, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?» Oder mit Floskeln wie «Das wird ein Herzensbrecher» oder «Ich höre schon die Hochzeitsglocken», wenn ein Junge und ein Mädchen zusammenspielen. Gerade als Eltern sind wir gefragt, hier achtsam gegenzusteuern und vor allem unsere eigene Heteronormativität zu reflektieren. Damit unsere Fragen und Bemerkungen nicht suggestiv werden.
Auch wenn ich mich selbst gerne für eine aufgeschlossene Mutter halte, finde ich mich oft in heteronormativen Mustern gefangen. Denn die Heteronormativität ist aus meiner Erziehung nicht einfach verschwunden, nur weil wir viele Playdates mit dem befreundeten lesbischen Paar und ihren Söhnen haben und ich bei Kinderbüchern darauf achte, dass Diversität abgebildet wird. Manchmal sitzt die Heteronormativität noch mit mir sonntags am Küchentisch.
Denn als mein Kind über die geschminkten Männer in Röcken kicherte, ging es nicht um den «schlechten Einfluss» aus dem Kindsgi, sondern um meine eigene heteronormative Wahrnehmung. In dem Moment, als ich kurz davor war, mein Kind zu fragen, was denn an Männern in Röcken so komisch sein soll. Um es anschliessend zu belehren, dass es ja ganz «normal» sei. Zum Glück sagte ich aber nichts und hörte stattdessen genau hin. Mein Kind – das mein fragendes Gesicht wohl registrierte – erklärte dann besonnen, was es so lustig an dem Bild fand: «Mami, warum haben die denn nur diese albern grossen Punkte auf ihren Kleidern?»
Dieser Text erschien zuerst auf dem Blog unserer Autorin: www.chezmamapoule.com.
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