Gastbeitrag zum Wirtschaftsnobelpreis Endlich: Ein Nobelpreis für Forschung, die mitten ins Leben trifft
Mit der diesjährigen Auszeichnung für Claudia Goldin wurde nicht nur eine Frau, sondern auch ökonomische Forschung mit einer klar weiblichen Perspektive geehrt. Beides ist bemerkenswert.
Computer werden immer schneller, Datensätze immer grösser, statistische Verfahren immer präziser. Doch damit allein gewinnen wir keine neuen Erkenntnisse, wenn wir die immer gleichen Fragen stellen. Claudia Goldin stellte sie, die neuen Fragen. Insbesondere danach, wie sich Frauen am Arbeitsmarkt beteiligen und unter welchen Bedingungen. Ursprünglich empirische Wirtschaftshistorikerin, trug sie für ihre Arbeiten mit viel Aufwand immer wieder historische Daten zusammen. Dies ermöglichte ihr, Trends über lange Zeiträume und in einem neuen Licht zu sehen.
Dabei hat Goldin wie keine andere Ökonomin von ihrem Format das Arbeitsleben und die Einkommen von Frauen über die letzten 250 Jahre untersucht. So hat sie gezeigt, dass die industrielle Revolution im 18. Jahrhundert zu einem enormen Rückgang der Arbeitseinkommen der Frauen im Vergleich zu jenen der Männer führte. Erst um die Jahrhundertwende kehrte sich dieser Trend um und beschleunigte sich insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg.
Es ist kein Zufall, dass in diese Zeit auch die Verbreitung der Antibabypille fiel. Goldin zeigte (zusammen mit ihrem Ehemann und Co-Autor Larry Katz), dass die Pille es jungen Frauen ermöglichte, länger einer Ausbildung nachzugehen, was ihnen zu mehr Erfolg auf dem Arbeitsmarkt, höheren Löhnen und besseren Jobs verhalf.
Claudia Goldin machte mit ihrer Arbeit erst sichtbar, was in der Ökonomie lange keine Beachtung fand: die Tatsache, dass die Wahlmöglichkeiten von Frauen häufig eingeschränkt waren und sind.
Die geschlechterspezifischen Lohnunterschiede sind dennoch nicht verschwunden und besonders ausgeprägt in Berufen, in denen Arbeitszeiten lange und unflexibel gestaltet sind, wie zum Beispiel in der Finanzbranche, der Wirtschaftsberatung oder in Anwaltskanzleien. Wichtiger Grund: die Pflichten einer Mutter – oder eben die Mutterschaftsstrafe. Wie Goldin weiter zeigt, ging aber auch diese von Generation zu Generation zurück.
Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von aktuellen Studien aus verschiedenen Ländern zur Mutterschaftsstrafe, also den anhaltenden Lohneinbussen, die Frauen nach Geburt eines Kindes im Vergleich zu Männern – je nach Betrachtungsweise – erdulden, in Kauf nehmen oder selbst wählen. In der Schweiz, wo die Mutterschaftsstrafe besonders ausgeprägt ist, beträgt die Lohneinbusse im Vergleich zu Vätern und Frauen ohne Kinder auch zehn Jahre nach der Geburt noch bis zu 68 Prozent.
Dass die moderne Wirtschaftswissenschaft heute breit zu diesen Fragen forscht, ist nicht zuletzt Claudia Goldin zu verdanken. Sie machte mit ihrer Arbeit erst sichtbar, was in der Ökonomie, insbesondere in der Theorie, lange keine Beachtung fand: die Tatsache, dass die Wahlmöglichkeiten von Frauen häufig durch die Ehe und die Verantwortung für Haus und Familie eingeschränkt waren und sind.
Ökonomische Modelle behandelten Individuen in der Regel als geschlechtslose, wirtschaftliche Akteure. Ihre Arbeiten sind mit dafür verantwortlich, dass wirtschaftliche Akteure auch ein soziales Geschlecht haben, mit all den Eigenschaften, die dieses mit sich bringt. Wir sind keine austauschbaren Atome in einem physikalischen System, sondern Menschen einer Gesellschaft mit unterschiedlichen Normen und Erwartungen, wie wir uns als Mann oder Frau verhalten sollen.
Themen wie Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Krippenfinanzierung, Vaterschaftsurlaub, Individualbesteuerung, Lohnungleichheit, die Mutterschaftsstrafe und Rentenlücken von Frauen sind aus der öffentlichen Diskussion nicht mehr wegzudenken. Und zum Glück gibt es dazu auch immer mehr fundierte, datenbasierte Studien, die uns helfen, nicht nur aufgrund von persönlichen Meinungen und politischen Präferenzen über diese Dinge zu entscheiden, sondern auf der Basis von Fakten.
Für die inzwischen weitverbreiteten empirischen Methoden der kausalen Analyse wurden vor zwei Jahren die Ökonomen David Card, Guido Imbens und Joshua Angrist ausgezeichnet. Mithilfe kausaler Methoden lässt sich beispielsweise die Auswirkung von Politikmassnahmen oder bestimmten Ereignissen wie der Geburt eines Kindes auf das Arbeitsangebot und die Löhne von Müttern feststellen. Dass wir heute zu diesen Fragen forschen und in akademischen Fachzeitschriften publizieren, ist jedoch der Pionierarbeit von Claudia Goldin zu verdanken.
Nur wenn wir ökonomische Zusammenhänge besser erkennen und verstehen, wird es möglich sein, in Zukunft für faire Chancen und Diversität zu sorgen.
Die Ehrung ist daher auch eine Anerkennung der vielfältigen wirtschaftswissenschaftlichen Forschung zu aktuellen, gesellschaftlich relevanten Themen, die für den einen oder anderen Ökonomen vielleicht nicht viel mit Ökonomie zu tun haben. Aber die Ökonomie ist eine Sozialwissenschaft, sie funktioniert nicht nach physikalischen Gesetzen, sondern ist geleitet von menschlichem Handeln in all seinen Facetten. Wenn wir diese miteinbeziehen, statt Unterschiede zu ignorieren, können wir wichtige ökonomische Zusammenhänge besser erkennen und verstehen. Nur mit einem solchen Verständnis wird es möglich sein, in Zukunft beispielsweise Gendergaps weiter zu schliessen und für faire Chancen und Diversität zu sorgen.
Goldin ist erst die dritte Frau, die den Wirtschaftsnobelpreis erhält. Nur in Physik liegt der Frauenanteil unter den Nobelpreisträgern tiefer, allerdings gewann Marie Curie bereits 1903 einen Nobelpreis – über hundert Jahre vor der ersten Ökonomin, Elinor Ostrom, die 2009 geehrt wurde. Die Ökonomie kämpft in den USA bis heute mit einem tiefen Frauenanteil (ca. 32% der Bachelorabschlüsse), obwohl sie als Teil der Sozialwissenschaften eigentlich ähnliche Geschlechterverhältnisse wie Politikwissenschaft (55%), Soziologie (72%) oder Psychologie (79%) haben könnte.
Gleichzeitig sind Ökonominnen und Ökonomen klar die bestbezahlten Sozialwissenschaftlerinnen. Auch hierzu hat Claudia Goldin, die erste Frau mit einer vollen Professur in Ökonomie an der Harvard University, geforscht. Sie setzt sich seit vielen Jahren auf verschiedenen Ebenen für mehr Diversität, Inklusion und ein besseres zwischenmenschliches Klima in der Ökonomie ein und dafür, dass insbesondere Frauen stärker angesprochen werden. Die Ökonomenzunft ist sich – für einmal – einig: Hier wurde zu Recht ein Lebenswerk ausgezeichnet.
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