Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Italiens Regierungskrise
Ganz Italien bekniet Mario Draghi

Der Premier in Algier, das Getöse in Rom: Mario Draghi reiste am Montag für die Unterzeichnung eines Gasabkommens nach Algerien – am Mittwoch wird er im italienischen Parlament erwartet. 
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Der Termin in Algier war schon lange geplant, fett unterstrichen: Montag, 18. Juli. Eine Wegmarke für Italiens Energiesicherheit in näherer und auch etwas fernerer Zukunft. Algerier und Italiener kamen zusammen, um einen neuen Gasdeal zu unterzeichnen, der Italiens Abhängigkeit von russischen Lieferungen massiv verringern wird. Und so stand auch nie zur Debatte, ob Mario Draghi den Termin absagen könnte – selbst wenn daheim in Rom eine Regierungskrise mit allen ihren Verwerfungen schwelt. Sechs Minister reisten mit.

Eine Konzession machte der Premier dann trotzdem: Er liess das Programm von zwei auf einen Tag komprimieren. So bleibt ihm ein voller Tag, um an seiner Rede zu schreiben, die er am Mittwoch im italienischen Parlament halten wird. Auch dieser Termin, der 20. Juli, ist fett markiert in der Agenda der Republik.

Tritt Draghi tatsächlich zurück? Oder lässt er sich erweichen? Alles erscheint offen. Die Journalisten, die Draghi nach Algier begleiteten, hofften wohl, dass sie etwas über den möglichen Ausgang der Regierungskrise erfahren würden, eine Andeutung, ein Hauch von einer Ahnung.

Von 40 auf 25 Prozent: Die Abhängigkeit von Russland wird kleiner

Das neue Abkommen mit Algerien ist ein gutes Beispiel für seinen proaktiven Regierungsstil. Schon kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine lancierte Draghi eine Strategie für die Diversifizierung der Gasquellen. Italien bezog bisher 40 Prozent seines Bedarfs für Wirtschaft und private Haushalte aus Russland.

Da das Land auch einen beträchtlichen Teil seines Stroms aus Gas generiert, wurde diese Abhängigkeit plötzlich zu einem drängenden Problem. Über seinen Energiekonzern Eni schloss Italien schnell eine Reihe von Deals, mit denen das Land die Abhängigkeit bereits in diesem Jahr von 40 auf 25 Prozent verringert. In zwei Jahren will man dann ganz frei sein von russischem Gas.

Algerien ist jetzt bereits der wichtigste Lieferant, über die Pipeline Transmed. Das Gas kommt aus der Sahara, durchquert Tunesien und das Mittelmeer bis Mazara del Vallo auf Sizilien und von dort weiter nordwärts. Transmed hat noch freie Förderkapazitäten. Italien wird dem nordafrikanischen Staat jetzt mit Investitionen helfen, damit es noch mehr werden kann.

Algerien ist jetzt bereits der wichtigste Gaslieferant Italiens: Im Bild eine Förderanlage in der Sahara. 

Im Notfall, sollte Wladimir Putin die Erpressung mit russischem Gas im kommenden Winter auf die Spitze treiben, könnte das algerische Gas über das italienische Netz auch in den europäischen Norden gepumpt werden. Italien würde dann als Brückenkopf fungieren, als Verteilungszentrum. So sieht das Mario Draghi.

Die Frage ist, ob er dann noch im Amt ist. Wäre es nach dem Premier gegangen, wäre er am vergangenen Donnerstag offenbar sofort und unwiderruflich zurückgetreten, nachdem ihm die Partnerpartei Cinque Stelle im Senat das Vertrauen verweigert hatte. Doch Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella wies den Rücktritt zurück und forderte Draghi auf, sich im Parlament zu erklären, bevor er sich erneut einer Vertrauensfrage stellen würde. Oder anders: Mattarella fror den Rücktritt ein mit der Hoffnung, Draghi könnte seine Meinung doch noch ändern und dann weiterregieren – für die politische Stabilität des Landes in extrem volatilen Zeiten.

Der Bestsellerautor fordert ein «persönliches Opfer»

Es ist dies ein weitverbreiteter Wunsch: In einer Umfrage sprachen sich 65 Prozent der befragten Italienerinnen und Italiener dafür aus. Mehr als tausend Bürgermeister im Land haben Draghi gebeten, im Amt zu bleiben. Linke und rechte. Dazu Universitätsrektoren, Unternehmer, der Ärzteverband.

Bestsellerautor Antonio Scurati schrieb in einem offenen Brief im «Corriere della Sera», Draghi möge doch bitte ein weiteres persönliches Opfer auf sich nehmen für das Wohl der Allgemeinheit, auch wenn er dafür über den Schatten seiner Prinzipien springen müsse. In etlichen Städten Italiens wurden Kundgebungen für Draghi organisiert. Und natürlich gab es auch sorgenvolle Anrufe aus westlichen Kapitalen, zum Beispiel aus Paris: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron versteht sich politisch und persönlich blendend mit Draghi.

Aus der Entourage des italienischen Premiers heisst es, die vielen Appelle rührten ihn – aber ob das ausreicht, um ihn umzustimmen? Am Ende hängt alles von der Politik ab. Die Parteien senden konfuse Signale aus, es ist dies schliesslich ihre hohe Zeit: Sie pokern.

Architekt des Bruchs: Vorgänger Giuseppe Conte bei der Amtsübergabe an Mario Draghi am 13. Februar 2021 im Palazzo Chigi. 

Besondere Aufmerksamkeit erhalten die Cinque Stelle und ihr Chef, der frühere Premier Giuseppe Conte. Draghi beteuerte in jüngerer Vergangenheit oft, seine Regierung der nationalen Einheit überlebe nur, wenn die Fünf Sterne, Wahlsieger von 2018, auch in Zukunft daran teilnähmen – und dies, obschon er auch ohne sie eine breite Mehrheit im Parlament hinter sich wüsste. Die frühere Protestpartei erlebt eine dramatische Zerreissprobe. Es messen sich dabei die sogenannten Governisti, die weiterregieren möchten, und die Movimentisti, die Bewegten um Conte also, die sich von einem Gang in die Opposition bessere Umfrageergebnisse erhoffen.

Vor ein paar Wochen hatten schon einige Dutzend Governisti die Partei verlassen: Die Mitglieder der Gruppe «Insieme per il Futuro» um Aussenminister Luigi Di Maio werden für Draghi stimmen. Und viele mehr könnten ihrem Beispiel folgen, die Rede ist von 35 bis 40. Mit dabei: zwei Minister und der Fraktionschef der Cinque Stelle in der Abgeordnetenkammer. Gut möglich, dass die Abspaltung dann bald einmal grösser sein wird als die Urpartei. Und was ist dann?

«Taugenichtse» und Postfaschisten

Die Rechte gibt sich unterdessen wahlbereit, jedoch nicht alle gleich entschlossen. Matteo Salvini von der Lega und Silvio Berlusconi von Forza Italia, beide Partner in Draghis Regierung, möchten nie mehr mit den Sternen regieren, die sie bei der Gelegenheit «fannulloni» nennen, Taugenichtse. Dann lieber vorgezogene Neuwahlen im Herbst, sagen sie. Tatsächlich?

Interessiert an einem schnellen Ende der Legislaturperiode ist eigentlich nur Giorgia Meloni, die Chefin der oppositionellen Fratelli d’Italia. Die Postfaschisten stehen in den Umfragen so hoch wie noch nie, je nach Institut sind sie im Moment Nummer eins oder Nummer zwei im Land. Und vielleicht ist auch das eine Entscheidungshilfe für Mario Draghi.