EZB vor ZinssenkungChristine Lagarde steht unter Zugzwang
Die Europäische Zentralbank wollte zuwarten, doch ein nächster Zinsschritt im Oktober drängt sich auf. Lagarde muss sich den Vorwurf gefallen lassen, die Dynamik falsch eingeschätzt zu haben.

Madame Inflation: Diesen Schmähnamen erhielt die amtierende Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, einst von der «Bild»-Zeitung. Das war im Herbst 2021, als die EZB trotz anziehender Teuerung noch keinerlei Anstalten machte, ihre Geldpolitik zu straffen – sehr zum Missfallen des deutschen Boulevardblatts, das damals vehement eine Zinserhöhung forderte.
Die Anekdote zeigt: Als Chefin einer Währungsbehörde wie der EZB gerät man schnell einmal ins Kreuzfeuer. Zwanzig Mitgliedsländer zählt die Europäische Währungsunion inzwischen – alle haben ihren eigenen Wirtschaftsgang, ihre starken und schwachen Branchen, ihre politischen Traditionen. Macht es die EZB einem Mitgliedsland recht, kommt garantiert Kritik aus einem anderen.
Um damit klarzukommen, hat sich Christine Lagarde ihre eigene Strategie zurechtgelegt. Die Französin, die seit 2019 an der Spitze der Europäischen Zentralbank steht, setzt auf Konsens: Alle im 26-köpfigen EZB-Rat, in dem neben dem Direktorium der Notenbank auch Vertreter aller Euroländer sitzen, sollen einverstanden sein – erst dann wird ein Entscheid gefällt und kommuniziert.
Der Führungsstil soll öffentliche Querelen rund um die Geldpolitik der EZB vermeiden. Doch er scheint andere, gewichtige Nachteile mit sich zu bringen.
Die EZB war mehrmals spät dran
Offenkundig wurde dies etwa im angesprochenen Herbst 2021, also zum Ende der Pandemie hin. Die EZB brauchte damals ausgesprochen lange, um ihre Politik umzustellen. Erst im Juli 2022, nachdem die Notenbanken in den USA, in Grossbritannien und in der Schweiz bereits vorgelegt hatten, begann sie ebenfalls mit Zinserhöhungen. Wie sich in den Folgemonaten weisen sollte, ging dabei wertvolle Zeit im Kampf gegen die aufkommende Inflation verloren.
Spät den Kurs gewechselt hat die EZB auch ein Jahr später, als immer klarer wurde, dass die Inflation nun besiegt war. Wichtige Notenbanken stellten daraufhin ihre Zinserhöhungen ein: die Schweizerische Nationalbank im Juni, die Federal Reserve im Juli 2023. In Frankfurt schraubten die Währungshüter aus Sorge um die hohe Inflation jedoch noch im September 2023 ein weiteres Mal den Leitzins nach oben – was viele Ökonomen in Anbetracht der flauen Wirtschaftsentwicklung, die seither in Europa herrscht, als Fehler einstufen.
Besonders prägnant ist die Situation heute. Im Euroraum wird kaum investiert. Weder Firmen noch Privathaushalte nehmen in grossem Umfang Kredite auf, um die Produktion auszubauen oder um Immobilien zu erstellen. Derweil legen Konsumenten ihr Geld lieber zur Seite, als es auszugeben. All das ist schon seit Monaten bekannt – und verlangt eigentlich nach einem beherzten Einschreiten.
Christine Lagarde wollte behutsam vorgehen
Doch die Europäische Zentralbank schien es bis zuletzt alles andere als eilig zu haben. Man werde behutsam vorgehen und «Sitzung für Sitzung» abklären, wie schnell man die begonnenen Zinssenkungen fortführen wolle, meinte Lagarde etwa anlässlich der letzten EZB-Sitzung im September. Interpretiert wurde dies dahingehend, dass die Euro-Währungshüter wohl erst im Dezember ein weiteres Mal handeln und den Leitzins auf 3,25 Prozent senken würden.
Doch nun sieht plötzlich alles anders aus. Nicht nur am Finanzmarkt glaubt man neuerdings, dass die EZB ihr Tempo verschärfen und neu alle sechs statt alle zwölf Wochen an der Zinsschraube drehen wird. Sondern auch vonseiten der Notenbank selbst haben mehrere Exponenten zuletzt signalisiert, dass es in diese Richtung gehen könnte. Für besonders aussagekräftig wurde in dem Zusammenhang eine Rede von Isabelle Schnabel gehalten, einem Mitglied im sechsköpfigen Direktorium der Europäischen Zentralbank. Sie gilt sonst eher als Hardlinerin, scheint nun aber ebenfalls einzusehen, dass in der Euro-Wirtschaft nicht die Inflation das grössere Risiko ist, sondern die Konjunktur.
Die Antithese zu ihrem Vorgänger Mario Draghi
Dass die EZB als Institution so lange braucht, um sich das einzugestehen – und entsprechend zu handeln –, stösst in der Fachwelt zunehmend auf Kritik. «Im Prinzip ist die Idee, dass alle Mitglieder im EZB-Rat einen Entscheid mittragen sollten, schon richtig», sagt Karsten Junius, Chefökonom bei der Bank J. Safra Sarasin. «Doch es macht die EZB auch langsam. Sie agiert wenig proaktiv und wird trotz ihrer grossen Ressourcen nicht als Schrittmacherin im Zinszyklus wahrgenommen, ganz anders als etwa die Federal Reserve in den USA.»
Das Image der Unentschlossenheit steht in Kontrast zu dem Bild, das die EZB vor Lagardes Zeit vermittelte. Von 2011 bis 2019 war dort Mario Draghi am Ruder. Und er pflegte als Präsident einen ganz anderen Stil: Statt sich vorab in langen Diskussionen mit allen Ratsmitgliedern abzustimmen, preschte er öfter im Alleingang vor. Sein berühmtestes Manöver datiert vom Juli 2012, als er in einer Rede den Satz fallen liess, die EZB werde tun, «was immer nötig ist», um die kriselnde Eurozone zu retten – und damit seinen Kollegen im EZB-Rat keine andere Wahl liess, als genau das zu tun: die Währungsunion zu stabilisieren.
Dass er damit die Rage des deutschen Wirtschaftsestablishments auf sich zog, schien den Italiener nicht gross zu beeindrucken. Und so setzte er in der Folge auch die Geldpolitik der Null- und Negativzinsen durch, die besonders in Deutschland sehr unpopulär war – die «Bild»-Zeitung beschimpfte Draghi dafür einmal als «Graf Draghila», der die Konten von Sparern aussauge.

Christine Lagarde verhält sich demgegenüber ganz anders. Sie bezieht selten Stellung, bevor Einigkeit bei der EZB herrscht. Ihre eigene Meinung hält sie in der Regel zurück – sodass man sich zuweilen fragt, ob sie überhaupt eine eigene Meinung hat. Bezeichnend dafür ist eine Umfrage, die das Finanzportal «Bloomberg» unter Ökonomen gemacht hat. Um sich zu informieren, in welche Richtung es bei der EZB gehen würde, gaben diese an, dass sie nicht in erster Linie auf die Äusserungen der Präsidentin achten würden. Sondern eben auf jene von Isabelle Schnabel, einer untergeordneten Kollegin im Direktorium.
Eine Symphonie ohne Dirigent
Das müsste Lagarde eigentlich zu denken geben. Doch womöglich liegt es ihr einfach nicht, in der Geldpolitik die grosse Vordenkerin zu spielen. Im Licht ihrer Biografie erscheint das nachvollziehbar. Die Französin ist ausgebildete Juristin: Nach dem Studium arbeitete sie vierundzwanzig Jahre lang bei der Kanzlei Baker & McKenzie. Erst spät in ihrer Karriere wechselte sie ins französische Handelsministerium und damit in die Wirtschaftspolitik. Anders als Mario Draghi, der als Makroökonom eine Dissertation verfasst (unter Aufsicht eines Nobelpreisträgers) und sich als Akademiker einen Namen gemacht hat, ist Lagarde im Notenbanking eigentlich eine Quereinsteigerin.
Und so steht sie zwar im Rampenlicht, wenn die Europäische Zentralbank alle sechs Wochen einen geldpolitischen Beschluss fällt und anschliessend eine Pressekonferenz abhält. Doch mit weitsichtigen Äusserungen fällt sie dabei selten auf. Lieber betont sie bei dieser Gelegenheit, wie stark die Politik der EZB «von Daten getrieben» sei. Also abhängig davon, wie hoch die Inflationszahlen im nächsten Monat oder die Lohnentwicklung im kommenden Quartal ausfällt.
Pierpaolo Benigno, Wirtschaftsprofessor an der Universität Bern, hält dieses Vorgehen für problematisch. Er vergleicht die Geldpolitik im Euroraum mit einer «Symphonie ohne Dirigenten» und fordert von der Europäischen Zentralbank, dass diese den Wirtschaftsakteuren konkretere Hinweise darauf geben sollte, wie sie die Wirtschaftsentwicklung interpretiert und welchen Kurs sie einschlagen will. «Das würde die Geldpolitik effizienter machen», sagt er.
Was «Madame Inflation» von dem Ratschlag hält, zeigt sich am Donnerstag. Dann tritt Christine Lagarde im Anschluss an die EZB-Sitzung vor die Medien. Sehr wahrscheinlich wird sie eine Zinssenkung verkünden. Und damit wieder einmal im letzten Moment auf den Kurs einschwenken, den am Finanzmarkt und in Ökonomenkreisen ohnehin praktisch alle für angebracht halten.
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