Getrennte Wege bei GeldpolitikIn den USA boomt die Wirtschaft, in Europa dümpelt sie dahin
Während die Europäische Zentralbank auf eine Zinssenkung zusteuert, verzögert sich die Wende in den USA. Die beiden Volkswirtschaften entwickeln sich fundamental anders.
Christine Lagarde sagt es zwar nur verklausuliert, mithilfe von Wenn-dann-Formulierungen, doch – und das ist das Wichtige – sie sagt es: Die Europäische Zentralbank (EZB) dürfte bald bereit sein, ihre Geldpolitik erstmals wieder zu lockern. Aller Voraussicht nach, und die Zuversicht dafür ist nach der heutigen Sitzung der Zentralbank erneut gestiegen, steht im Juni eine Zinssenkung an.
Das Vertrauen dafür schöpft die EZB-Präsidentin aus den Inflationszahlen, die über die letzten Monate veröffentlich wurden. Mehrmals in Serie ist die Teuerung im Euroraum nun zurückgegangen. Das Ziel von zwei Prozent scheint in Reichweite, da es auch bei sogenannten Kerninflation Fortschritte gibt. Bei dieser für die Geldpolitik besonders wichtigen Grösse werden die schwankungsanfälligen Energie- und Nahrungsmittelpreise aus der Teuerung herausgerechnet, damit ein klareres Bild über die Preisdynamik entsteht.
In klarem Kontrast dazu steht das Bild, das Daten zurzeit von der US-Wirtschaft zeichnen. Hier geht die Inflation langsamer zurück, als es Jerome Powell lieb sein kann. Der Präsident des Federal Reserve spricht eigentlich schon seit längerer Zeit über Zinssenkungen, muss diese aber immer weiter in die Zukunft verschieben. Als möglichen Termin machten die Finanzmärkte statt den Juni nun den September aus, nachdem diese Woche erneut eine überraschend hohe Teuerung aus den Vereinigten Staaten vermeldet worden war.
Damit bahnt sich ein Auseinanderdriften der Geldpolitik in Europa und in den USA an: Christine Lagarde und Jerome Powell gehen künftig getrennte Wege.
Noch zum Jahreswechsel hatte wenig auf eine solche Entwicklung hingedeutet. An den Finanzmärkten ging man damals davon aus, dass die Geldpolitik auf beiden Seiten des Atlantiks im Gleichschritt vorankommen würde. Nun werden diese Einschätzungen revidiert. Blickt man auf die zugrunde liegenden Kräfte, die in den beiden Volkswirtschaften am Werk sind, so ergibt das durchaus Sinn.
Amerika läuft schon länger heiss
Einen wichtigen Einfluss darauf, wie sich Inflation entwickelt, hat die Konjunktur. Läuft sie auf Hochtouren, so steigen in der Regel die Preise.
Genau das spielt sich seit rund drei Jahren in den USA ab. Schon kurze Zeit nach Ausbruch der Pandemie nahm die dortige Konjunktur wieder an Fahrt auf. Eine hohe Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen traf auf ein begrenztes Angebot an Waren und insbesondere von Arbeitskräften, die aufgrund des Coronavirus nur zögerlich an die Arbeit zurückkehrten.
Beziffern lässt sich dieses Missverhältnis anhand des sogenannten Output Gap. Diese Grösse gibt die Auslastung der Wirtschaft an: Liegt sie über null, so wie es in den Vereinigten Staaten gemäss den Berechnungen des Internationalen Währungsfonds der Fall ist, so ist die Wirtschaft über ihre Kapazitäten ausgelastet. Die Folgen davon sind über kurz oder lang meist steigende Preise.
In der Eurozone war die Wirtschaftsauslastung zuletzt leicht negativ, und gemäss den Prognosen des Währungsfonds dürfte das auch in den kommenden Jahren so bleiben. Das bedeutet, dass es in Europa deutlich weniger Druck auf die Preise gibt. Und es erklärt, warum die Inflation in Europa schneller sinkt.
In den USA boomt die Wirtschaft, in Europa dümpelt sie dahin: Ein Grund für dieses Auseinanderklaffen sind die hohen Energiepreise der letzten Jahre. Für die Vereinigten Staaten, einen Exporteur von Öl und Gas, waren sie unter dem Strich ein Gewinn. Für Europa, das auf Importe dieser Rohstoffe angewiesen ist, waren sie ein Verlust – beziehungsweise ein Kostenfaktor, der zwar die Teuerung angetrieben, aber auch die Konsumfreude merklich gedämpft hat.
Europa hat die grössere Haushaltsdisziplin
Ein zweiter Grund ist die unterschiedliche Fiskalpolitik in den beiden Blöcken. In den USA sind schon unter der Regierung von Donald Trump die Defizite gewachsen. Seit Joe Biden im Amt ist, haben sie noch stärker zugenommen. Der Staat gibt viel mehr Geld aus, als er einnimmt. So klafft im amerikanischen Haushalt dieses Jahr eine Lücke von sieben bis acht Prozent des Bruttoinlandprodukts. Und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich das in Zukunft bald ändern dürfte.
Staatsdefizite in dieser Grössenordnung sind in der Europäischen Union völlig inakzeptabel. Eine Lücke von drei Prozent gilt hier als zulässiges Maximum, das nur in ausserordentlichen Zeiten – wie etwa einer Pandemie – übertroffen werden darf. Schätzungen zufolge dürfte die Eurozone als Ganze dieses Jahr wieder die Defizitregel einhalten, für 2026 sind gut zwei Prozent veranschlagt.
Dass die europäischen Staaten weniger Geld in die Wirtschaft pumpen, erklärt, warum Christine Lagarde im Fight gegen die Inflation ein leichteres Spiel hat. Anders als ihr Gegenpart bei der Fed muss die EZB-Chefin mit ihrer Geldpolitik nicht gegen die Fiskalpolitik der eigenen Regierung ankämpfen, sondern wird von den europäischen Ländern in ihrem Auftrag unterstützt. Derweil heizt die Regierung in den USA mit ihren Staatsausgaben die Teuerung zusätzlich an.
Die Auswirkungen dieser unterschiedlichen Politik sind in den letzten Monaten immer deutlicher geworden. Sie zeigen sich etwa bei den Löhnen: In den USA wachsen sie unverändert in hohem Tempo und tragen dadurch ihrerseits zur Inflation bei. In Europa hat sich das Lohnwachstum dagegen verlangsamt.
Gerade für die Europäische Zentralbank ist das ein wichtiges Signal. Sollte sich der Trend bestätigen, wenn bis im Juni weitere Statistiken dazu vorliegen, dann würde das beinahe schon grünes Licht für eine Zinssenkung bedeuten. Oder, wie Christine Lagarde es ausdrückt: Es würde «die Zuversicht stärken», damit die EZB den «angemessenen Restriktionsgrad der Geldpolitik» reduzieren kann.
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