Analyse zur Eskalation in NahostMilitärische Logik könnte eine unheilvolle Kettenreaktion auslösen
Nach dem Anschlag auf den Hamas-Führer im Libanon verschärft sich mit dem Ton auf allen Seiten auch die Gefahr für Israel. Diese explosive Lage könnte ungeplante Folgen haben.
Der tödliche Angriff auf den Hamas-Vize Saleh al-Arouri in Beirut ist ein Paukenschlag gewesen und eine gefahrvolle Eskalation – doch eine Überraschung war er nicht. Arouri selbst hat gewusst, in welcher Gefahr er sich befindet. «Ich warte auf den Märtyrertod, und ich denke, ich habe zu lange gelebt», hatte er noch im August in einem ortsüblich pathetischen Interview erklärt.
Auf der anderen Seite der Front haben auch die Israelis keinen Hehl aus ihren Plänen gemacht, selbst wenn sie im konkreten Fall wie üblich offiziell keine Verantwortung übernehmen. Schon im November hatte Premierminister Benjamin Netanyahu erklärt, er habe den Mossad angewiesen, alle Anführer der Hamas zu töten, «wo auch immer sie sind».
Jeder kennt die Regeln in diesem Kampf
Im nahöstlichen Dauerkonflikt wird nach Regeln gekämpft, die jeder kennt. Was allerdings niemand jemals wirklich weiss, ist, wohin das führt. Es ist ein Spiel mit dem Feuer, an dem reichlich Pyromanen und wenige Löschkräfte beteiligt sind.
Welche Kraft das Feuer hat, das nun mit dem Angriff in Beirut entfacht wird, und wie weit es sich ausbreitet, kann auch keiner der mutmasslichen Verantwortlichen in Israel abschätzen. Wird die libanesische Hizbollah-Miliz nach dem Angriff im Herzen des eigenen Machtbereichs nun mit aller Kraft in diesen Krieg einsteigen? Wird die vom Iran geschmiedete «Achse des Widerstands» noch offener und noch massiver in den Konflikt eingreifen? Wird am Ende gar der Iran einen regionalen Grosskrieg anzetteln und die Konfrontation mit den USA riskieren?
Wünschen mag sich das niemand, so geplant haben dürfte das auch niemand. Aber Kriege sind, allen Strategieschulen zum Trotz, niemals planbar. Stets wird die Logik vom Kontrollverlust bedroht. Es werden Kosten-Nutzen-Rechnungen aufgestellt, deren Ergebnis zumeist mehr Wunsch als Wirklichkeit ist.
Israel seit 75 Jahren im Krieg
Nirgends weiss man das besser als in Israel, das sich seit seiner Gründung vor 75 Jahren im Kriegszustand befindet. In den weniger schlimmen Zeiten hat sich das Land immer wieder dem Gefühl hingegeben, die Konflikte beherrschen zu können – bis hin zur Hybris und einer Rücksichtslosigkeit, die sich in der seit 1967 andauernden völkerrechtswidrigen Besatzung der Palästinensergebiete manifestiert.
In den schlimmen Zeiten aber wird die Bedrohung als existenziell erlebt. Diese schlimmen Zeiten sind am 7. Oktober wieder angebrochen. Der Terrorüberfall der Hamas, das Massaker an 1200 wehrlosen Menschen und die Verschleppung von Geiseln in den Gazastreifen haben alte Traumata geweckt und alle Abwehrreflexe ausgelöst. Als Kriegsziel vorgegeben wurde die Zerstörung der Hamas, und dieses Ziel wird mit einer Konsequenz verfolgt, die ausserhalb Israels angesichts von inzwischen mehr als 22’000 toten Palästinensern auch bei den engsten Verbündeten die Rufe nach Mässigung immer lauter werden lässt. Die Härte aber erklärt sich durch ein weiteres Ziel dieser Kriegsführung: die Abschreckung. All jene, die rund um Israels Grenzen die Vernichtung des jüdischen Staates beschwören, sollen sehen, was ihnen beim Versuch blüht.
Die Chaos stiftende Hand der Herrscher in Teheran
Wie breit die Front der Feinde ist, hat Israel schliesslich in den vergangenen drei Monaten erleben müssen. Gleich zu Beginn des Kriegs gegen die Hamas schloss sich die Hizbollah an mit einem beständigen Beschuss im Grenzgebiet. Eilat, die Hafen- und Touristenstadt am Roten Meer, wird von den Huthi im Jemen ins Visier genommen. Raketen kamen aus Syrien, Drohungen aus dem Irak, und das palästinensische Westjordanland ist ohnehin stets Kampfgebiet. Hinter all dem ist die Chaos stiftende Hand der Herrscher in Teheran schon deutlich zu erkennen.
Von einem Krieg an «sieben Fronten» hat Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant deshalb kürzlich gesprochen – und Antworten an jeder dieser Fronten versprochen. Der neue Aussenminister Israel Katz spricht gar schon vom «dritten Weltkrieg», der gegen den Iran und den radikalen Islam geführt werde. Wie weit der Krieg in der Praxis tatsächlich schon über Gaza hinausreicht, war zunächst vorige Woche in Damaskus zu sehen, wo der Revolutionsgarden-General Razi Mousavi einem Luftangriff zum Opfer fiel. Nun traf es in Beirut den Hamas-Anführer Arouri, den palästinensischen Verbindungsmann zu Hizbollah und Iran.
Kämpfe in Gaza werden noch lange weitergehen
So droht die militärische Logik eine unheilvolle Kettenreaktion in Gang zu setzen. Drei Monate nach Kriegsbeginn ist deshalb eine erschütternde Zwischenbilanz zu ziehen: Die verheerenden Kämpfe um Gaza werden noch lange weitergehen, und sie werden an jedem Tag begleitet sein von der Gefahr einer regionalen Ausweitung.
Hoffnung kann es trotzdem noch geben: Vielleicht bremst die Angst auf allen Seiten beim Weg in den Abgrund, vielleicht siegt die Vernunft, vielleicht hilft doch noch diplomatischer Druck von aussen. Zwingend also sind die schlimmsten Szenarien nicht. Aber zunehmend möglich.
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