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Interview zu Klimaklebern 
«Eine gesunde Demokratie braucht solche Gruppen, die nerven»

Eine Klimaaktivistin blockiert die Autobahnausfahrt in Zürich am Tag nach der Abstimmung zum Klimagesetz.
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Herr Anderl, obwohl das Stimmvolk das Klimagesetz angenommen hat, klebten sich Aktivistinnen und Aktivisten am Tag danach auf die Strasse. Finden Sie das legitim?

Legitimität ist immer gesellschaftlich ausgehandelt, also ich kann den Menschen nicht sagen, was sie legitim finden sollen. Aber: Was Leute für legitim halten, ändert sich mit der Zeit. Ich vermute, die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung findet diese Klebeaktion nicht legitim. Die Aktivistinnen und Aktivisten setzen aber darauf, dass sich das eines Tages ändert. Das sehen wir bei allen grossen Bewegungen: Zuerst werden die Protestierenden eher ausgegrenzt, haben wenig Zustimmung aus der Gesamtbevölkerung, aber sie stossen trotzdem eine Debatte an, die dazu führt, dass man die Dinge in zehn oder zwanzig Jahren anders sieht.

Diese Debatte ist momentan allerdings nicht sehr konstruktiv, denn der Protest trifft auch Leute, die morgens einfach zur Arbeit fahren müssen. Wie sinnvoll ist es, mit Klebe-Aktionen weiterzumachen, wenn die Stimmbevölkerung das Klimagesetz mit deutlichen 59 Prozent angenommen hat?

Diese Mehrheit ist Ausdruck davon, dass der Protest funktioniert hat und erfolgreich ist. Ohne die Klimabewegung hätte es wahrscheinlich keine Zustimmung von 59 Prozent gegeben. Grundsätzlich ist es so: Wenn eine Bewegung ein Thema anspricht, das in der Gesamtbevölkerung populär ist, dann bieten sich kooperative Protestformen an. Bei Themen, die in der Gesamtbevölkerung marginalisiert sind, bieten sich radikalere Protestformen an.

Die Klimafrage ist ja schon Mainstream, also bräuchte es keine radikalen Aktionen mehr.

Bei der Klimabewegung gibt es einen Unterschied zu früheren Protesten, und das ist die zeitliche Dimension. In den Augen der Aktivistinnen und Aktivisten hat man zwar einen Etappensieg errungen mit dem Klimagesetz, aber das reicht nicht. Sie wollen, so meine Interpretation, direkt weitermachen, weil sie unter Zeitdruck stehen.

Allerdings benötigen demokratische Entscheidungen eine gewisse Zeit. Geht es denn schneller, wenn man sich auf die Strasse klebt?

Das kann ich nicht generell einschätzen, aber: Die Demokratie lebt auch ausserhalb der Abstimmungen und Diskussionen im Parlament. Aus Sicht der Protestierenden bedeutet Demokratie nicht nur «Meinungsbildung, dann Abstimmung, und dann ist das Thema beendet». Eine gesunde Demokratie braucht solche Proteste und extraparlamentarische Gruppen, die nerven und provozieren. Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit gelten auch am Tag nach der Abstimmung.

Trotzdem hagelt Kritik auf die Aktivistinnen und Aktivisten ein.

Ja, auch das gehört zu einer Demokratie, sie müssen das aushalten. Was nicht geht, sind Hass und Gewalt. Dass man den Protestierenden mit dem Auto über die Füsse fährt oder handgreiflich wird, gehört nicht zum Recht auf Meinungsäusserung.

Ist die Klimabewegung anders als andere Protestgruppen?

Was mir auffällt: Die Klimabewegung orientiert sich stark an den demokratischen Institutionen. Sie adressiert die Regierung, fordert den Bundesrat auf, den Klimanotstand auszurufen, appelliert an das Parlament, man solle die Sache ernst nehmen. Vergleichen wir das zum Beispiel mit der Antiglobalisierungsbewegung oder der autonomen Szene, die mit dem Staat rein gar nichts zu tun haben wollen, muss man sagen: Der Klimaaktivismus ist sehr nah an den demokratischen Institutionen. Sie machen zwar nervige Sachen, manchmal auch an der Grenze des Rechtlichen, aber sie haben sich nicht von der Schweizer Demokratie verabschiedet.

«Die Klimabewegung war und ist insgesamt sehr effektiv, um das Thema auf die Tagesordnung zu bringen.»

Sind moderate Protestformen effektiver als radikale Bewegungen?

Radikale Protestformen, wie zum Beispiel Renovate Switzerland mit den Klebe-Aktionen, werden von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt; aber aus der Konfliktforschung wissen wir, dass dadurch moderate Stimmen Aufwind erhalten, wie zum Beispiel Fridays for Future, die mit breiten Velodemos mobilisieren können. Man nennt das den «radikalen Flankeneffekt». Die Klimabewegung war und ist insgesamt sehr effektiv, um das Thema auf die Tagesordnung zu bringen.

Trotzdem wurde das CO₂-Gesetz vor zwei Jahren abgelehnt, und für die Sommerferien sind die Flughäfen jeweils rappelvoll. Von Flugscham keine Spur.

Nur schon das Wort Flugscham war vor zehn Jahren inexistent. Dass es überhaupt diskutiert wird, ist ein Erfolg der Bewegung. Bei den grossen Umfragen in der Bevölkerung ist der Klimawandel seit einigen Jahren immer ein Top-Thema, auch international. Aber die Bewegung will, dass auf die Veränderungen im gesellschaftlichen Bewusstsein nun auch umfangreiche Taten folgen.

Könnte diese Bewegung nicht dereinst kippen? Von der Antiglobalisierungsbewegung hören wir auch nicht mehr viel.

Bewegungen sterben immer irgendwann. Die Aktionsform mit dem Ankleben wird sich nicht ewig halten. Die Aufgabe einer Bewegung ist es, sich zu erneuern und immer wieder mit neuen Ideen die Menschen zu mobilisieren.

Was könnte die Klimakleber dereinst ablösen?

Das kann ich nicht vorhersagen. In Deutschland nehmen Aktivistinnen und Aktivisten die Superreichen ins Visier, malen beispielsweise ihre Privatjets orange an. In England ist die Bewegung wieder kooperativer geworden und setzt auf klassische Massendemos, die freundlicher und dialogischer sind. Die Aktivistinnen und Aktivisten lernen durchaus aus der Kritik an ihnen. Es gibt als Folge daraus unterschiedliche Ausrichtungen der Protestformen.