Interview zu Messergewalt«Wer wirklich Böses tun will, den hält kein Messerverbot davon ab»
Tödliche Waffe bei Femiziden und Gewaltverbrechen: Warum nehmen Angriffe mit Messern zu? Was bringen Tragverbote? Kriminologe Dirk Baier gibt Antworten.
Ob der Angriff auf Hortkinder wie in Zürich Oerlikon, ob der Femizid wie am Sonntagabend in Bülach ZH: Gewalt mit Messern als Tatwaffe wühlt die Schweizer Öffentlichkeit auf. Tatsächlich steigt die Messergewalt, nicht nur in der Schweiz, sondern in vielen Ländern Europas. Was steckt hinter der Entwicklung? Die Migrationsproblematik? Eine übersteigerte Männlichkeit? Der international anerkannte Gewaltforscher Dirk Baier gibt Antwort.
Herr Baier, was empfindet das Opfer eines Messerangriffes?
Ein Messerangriff ist für die Opfer äusserst traumatisch – häufig nehmen diese die Verletzung durch die Klinge zunächst gar nicht wahr.
Tatsächlich?
Ja, oft setzt das Bewusstsein über die Schwere der Verletzung erst Sekunden oder gar Minuten nach dem Angriff ein.
Weshalb sind Opfer von Messerangriffen besonders traumatisiert?
Der unmittelbare Kontakt zum Angreifer erhöht das Gefühl der Bedrohung: Man nimmt den Atem des Täters wahr, riecht ihn womöglich und erlebt die Attacke ganz nah. Im Gegensatz zu einem Angriff aus der Ferne mit einer Schusswaffe oder einem Schlag mit einem Baseballschläger ist beim Messer diese plötzliche Nähe intensiv und überwältigend. Das hinterlässt auch in der Psyche tiefe Spuren.
Was ist mit den Tätern: Erfordert ein Messerangriff mehr Entschlossenheit als das Drücken des Abzugs einer Schusswaffe?
Ein Messerangriff erfolgt in der Regel spontan. Häufig eskalieren Situationen, Emotionen kochen hoch. Und dann kommt es zum Einsatz des Messers – es ist gewissermassen eine Impulswaffe. Im Unterschied dazu ist ein Angriff mit einer Schusswaffe üblicherweise durchdacht und geplanter.
Studien zeigen, dass jeder fünfte männliche Jugendliche im Ausgang ein Messer auf sich trägt. Tragische Fälle von Messergewalt verunsichern die Bevölkerung, die Politik ruft nach schärferen Gesetzen. Benötigen wir neue Verbote?
Zuerst einmal: Gewisse sehr gefährliche Messer sind in der Schweiz bereits verboten, Springmesser etwa, Butterfly-Messer und Messer mit automatisch ausfahrbaren Klingen. Neue Verbote würden zwar ein Zeichen setzen, dass die Gesellschaft Messergewalt nicht akzeptiert – doch das ändert wahrscheinlich wenig an der Realität auf der Strasse oder an der Verwendung von Messern bei häuslicher Gewalt. Auch die Idee von Waffenverbotszonen klingt erst mal gut, ist aber schwer umzusetzen: Die Polizei ist ohnehin überlastet und kann solche Zonen kaum kontrollieren.
Deutschland, wo Messergewalt ein noch grösseres Politikum ist als in der Schweiz, kennt Messerverbotszonen. Welches sind die Erfahrungen?
Die Erfahrungen sind nicht eindeutig. Studien in Leipzig und Wiesbaden zeigen, dass zwar zahlreiche Messer bei Kontrollen konfisziert wurden, aber ein deutlicher Rückgang schwerer Körperverletzungen blieb aus. Auch das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung ist nicht deutlich besser geworden. Allerdings fehlt es noch an wissenschaftlich fundierten Resultaten.
Wäre es nicht vernünftig, zumindest bei Grossanlässen Verbote einzuführen?
Bei Grossevents mit Zugangskontrollen wäre das sicher sinnvoll, hier könnte man eine kurze Personenabtastung einführen. Aber bei offenen Veranstaltungen ohne Zäune ist das kaum umsetzbar. Ich bin nicht gegen solche Massnahmen – aber ich warne davor, deren Wirkung zu überschätzen.
Wie würde solch ein Vorgehen konkret aussehen, etwa in Zürich?
In Deutschland sind Messerverbotszonen vorwiegend an Ausgehmeilen und Bahnhöfen etabliert worden, da diese typische Hotspots für Gewalt sind. Dort werden Schilder aufgestellt, die das Verbot deutlich machen. Wenn die Polizei genügend Ressourcen hat, führt sie zu bestimmten Zeiten auch anlasslose Kontrollen durch, das heisst, Personen können auf Waffen überprüft werden, ohne dass ein konkreter Verdacht vorliegen muss.
In Zürich ist die Langstrasse ein solcher Hotspot.
Zum Beispiel.
In dem Quartier müssten also Messerverbotstafeln aufgestellt werden?
Genau, damit jeder überhaupt mal weiss, dass er kein Messer auf sich tragen darf. In Deutschland ist das Verbot zudem oft auf bestimmte Tage und Zeiten beschränkt, etwa Freitag- und Samstagabende. Wichtig ist, dass klar geregelt ist, welche zusätzlichen Rechte die Polizei in diesen Zonen hat, wie sie die Kontrollen durchführt. In Zürich wäre das kurzfristig kaum umsetzbar, da viele Instanzen, inklusive des Stadtparlaments, mitentscheiden müssten, bevor eine klare Regelung steht.
«Wir wissen, dass gesellschaftliche Ungleichheit oft mit mehr Gewalt einhergehen kann.»
Richtig viel tun können wir offenbar nicht, um die Messergewalt einzudämmen.
Die Möglichkeiten sind beschränkt, ja. Wer wirklich Böses tun will, den hält kein Messerverbot davon ab. Kommt hinzu, dass sich meiner Meinung nach die Debatte ohnehin zu stark auf das Messer fokussiert. Die grössere Perspektive ist: Wir haben tatsächlich ein wachsendes Gewaltproblem in der Gesellschaft. Schwere Körperverletzungen und andere Formen von Übergriffen nehmen zu. Das Messer ist nur eine Ausdrucksform dieser Entwicklung.
Wieso steigt die Gewaltbereitschaft? Es geht uns in der Schweiz doch gut.
Ich sehe das anders. Die sozialen Unterschiede nehmen immer mehr zu. Unsere Gesellschaft ist in gewisser Weise durch Extreme gekennzeichnet, wirtschaftliche, aber auch ideologische Gegensätze werden klarer und stehen sich unversöhnlich gegenüber. Eine Art Grundaggression ist spürbar, was man zum Beispiel an der politischen Spaltung sehen kann. Dies hat auch Auswirkungen auf die Gesellschaft. Themen wie Armut und Inflation sind sichtbar. Wir wissen, dass Ungleichheit oft mit mehr Gewalt einhergehen kann.
Es gibt hierzulande Fachleute und Politiker – darunter der parteilose Zürcher Regierungsrat Mario Fehr –, die argumentieren, der Anstieg der Messergewalt sei auf die Migration zurückzuführen. Wie sehen Sie das?
Diese Diskussion führen wir glücklicherweise in der Schweiz noch zurückhaltend. In Deutschland gibt es derzeit ja kein Halten mehr.
Wieso müssen wir Zurückhaltung üben? Die Lage ist doch ernst.
Aus zwei Gründen. Der erste Grund ist, dass wir bei diesem Thema auf Daten der Polizei angewiesen sind. Wir wissen, dass Ausländer generell ein höheres Risiko haben, von der Polizei erfasst zu werden, als Schweizerinnen und Schweizer. Das trifft auch auf Bedrohungen mit Stichwaffen zu, die ebenfalls zur Messerkriminalität gehören. Ausländer werden häufiger angezeigt als Schweizer.
Und der zweite Punkt?
Wenn wir genauer betrachten, woher diese Personen stammen, werden wir vielleicht Syrer, Afghanen, Algerier finden, aber auch Rumänen, Bulgaren und Brasilianer. Es ist also eine sehr vielfältige Gruppe von Menschen, die wir als Ausländer bezeichnen. Man erkennt schnell, dass sie nicht viel gemeinsam haben. Es ist keine einheitliche Kultur, die dazu führt, dass sie häufiger zu Messern greifen. Daher hilft es wahrscheinlich nicht, die Staatsangehörigkeit als entscheidendes Merkmal anzusehen.
Der Anstieg der Messergewalt ist ein europäisches Phänomen. Warum sind ausgerechnet Länder wie Deutschland, Österreich oder Grossbritannien besonders betroffen, die grosse Migrationsprobleme haben?
Eine Zunahme von Gewalt und eine gleichzeitige Migrationskrise bedeuten nicht zwangsläufig, dass das eine das andere verursacht. Man könnte auch anders denken: In den vergangenen Jahren hatten soziale Medien einen grossen Einfluss auf die Gesellschaft. Auf diesen digitalen Plattformen beobachten wir eine hohe allgemeine Aggressivität. Man könnte somit auch sagen, die sozialen Medien sind für die Zunahme der Messerkriminalität verantwortlich.
«Diejenigen Personen mit der höchsten Macho-Orientierung waren türkische Jugendliche.»
Es scheint, dass sich Kriminologie grundsätzlich schwer damit tut, den Zusammenhang zwischen Messergewalt und Täterherkunft offen zu untersuchen.
Ich kann nicht für die gesamte Kriminologie sprechen, aber für meinen Bereich gilt: Wir haben keine Angst, diese Themen anzusprechen, und ich leugne auch die vorhandenen Zahlen nicht. Unsere Aufgabe ist es jedoch, diese Zahlen einzuordnen und vor simplen Schlussfolgerungen zu warnen. Wenn ständig der Satz fällt «Algerier sind Messerkriminelle», was bedeutet das für Menschen aus Algerien, die das immer wieder hören? Solche Zuschreibungen erschweren ihre Integration und die Jobsuche.
Sie selbst sagten in Interviews, Messerkriminalität sei mit einer starken «Orientierung an Männlichkeit» verbunden, mit Machismus also. Das passt doch zur Stammkultur vieler Migranten.
Solche kulturellen Faktoren lassen sich nicht eins zu eins auf Nationalitäten zurückführen. Es wird ja niemand behaupten, dass alle Männer, die aus Nordafrika stammen, Machos sind.
Wie kommen Sie denn zum Konzept dieser «Orientierung an Männlichkeit»?
In Deutschland haben wir entsprechende Studien durchgeführt, über verschiedene Gruppen hinweg. Tatsächlich waren diejenigen Personen mit der höchsten Macho-Orientierung türkische Jugendliche. Etwa 20 Prozent von ihnen hatten eine ausgeprägte Orientierung an Männlichkeit. Das birgt Gefahren. Bei jungen Männern spielen oft Männlichkeitsnormen und der Druck, sich in Gruppen zu behaupten, eine Rolle. Solche Rivalität kann schnell in Messergewalt umschlagen.
Wir sprechen immer von Männern. Gibt es auch Frauen, die zum Messer greifen?
Ja, es gibt Situationen, in denen Frauen Messerverbrechen begehen. Im häuslichen Bereich sind Frauen nicht nur Opfer, sondern auch Täterinnen. Dies trifft auf etwa 20 Prozent der Fälle zu, Tatwaffe ist dabei oft ein Messer.
Historische Beispiele zeigen, dass in einer Gesellschaft Messergewalt immer wieder als besondere Bedrohung wahrgenommen wird. Beispielsweise in den USA während der 1950er- und 1960er-Jahre, als sich die Bevölkerung vor messerbewaffneten Jugendbanden fürchtete.
Diese historischen Beispiele zeigen, wie stark Ängste durch mediale Darstellung und gesellschaftliche Zuschreibungen geprägt werden können. Beim erwähnten Phänomen aus den USA ging es weniger um die tatsächliche Bedrohung, sondern vielmehr um die Vorstellung, dass eine bestimmte Gruppe – in dem Fall Jugendliche – eine Gefahr für die Ordnung darstellt.
Was können wir daraus lernen?
Das Gleiche erleben wir heute wieder, nur mit einem anderen Fokus: Statt Jugendgangs sind es nun oft Migrantengruppen, denen man erhöhte Gewaltbereitschaft zuschreibt. Solche Zuschreibungen können dazu führen, dass diese Gruppen stigmatisiert werden, was wiederum Integration und gesellschaftlichen Frieden erschwert. Das eigentliche Problem wird dadurch oft nicht gelöst.
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