Nach Attacke auf Hortkinder in ZürichWie Kinder traumatische Erlebnisse verarbeiten – Ein Experte erklärt
Der Zürcher Psycho- und Traumatherapeut Marc Heusser erklärt die psychischen Folgen für Kinder nach einer Attacke wie jener vom Dienstag in Zürich-Oerlikon. Und er rät Eltern, wie sie ihre Kinder unterstützen können.
Am Dienstagmittag erschütterte eine Messerattacke in Zürich-Oerlikon die Bevölkerung: Ein 23-jähriger Chinese griff mit einer Stichwaffe eine Gruppe Kinder an, die gerade auf dem Weg vom Kindergarten in den nahe gelegenen städtischen Hort war. Drei fünfjährige Knaben wurden verletzt, einer davon schwer. Sie sind ausser Lebensgefahr. Der Täter wurde gefasst, sein Motiv ist bisher unklar.
Marc Heusser ist Psycho- und Traumatherapeut und hat sich auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen spezialisiert. Er ist Gründer von Daosoma, einem Kompetenzzentrum für Traumata in Zürich. Im Interview erklärt er die psychischen Auswirkungen solcher Ereignisse auf Kinder und sagt, wie Eltern angemessen reagieren.
Herr Heusser, was löst es in einem Kind aus, wenn es einen gewalttätigen Angriff in der Öffentlichkeit aus nächster Nähe erlebt?
Das Kind, welches das Ereignis beobachtet, kann genauso betroffen sein wie eines, das selbst direkter Gewalt ausgesetzt ist. Menschen sind soziale Wesen und merken, wie es anderen geht. Das Ereignis kann deshalb die gleichen Gefühle auslösen: Ich fürchte um mein Leben, ich kann nicht dagegen kämpfen oder fliehen, ich bin machtlos.
Wie helfen Care-Teams und Fachleute nach einem so gravierenden Vorfall?
Oberste Priorität hat im ersten Moment, so schnell wie möglich eine sichere und vorhersehbare Umgebung zu schaffen. Die Kinder müssen sich wohlfühlen und zur Ruhe kommen können. Es geht darum, den Eindruck einer sicheren, wohlwollenden Welt wiederherzustellen. Damit kann man, wenn man Glück hat, eine Traumafolgestörung vermeiden.
In Zürich war der Ort ein spezieller: ein Hort.
Das hat eine besondere Bedeutung. Der Hort einer Schule ist ein Ort, zu dem Kinder Vertrauen haben, wo die Welt in Ordnung ist und für sie gesorgt wird. Wenn in diesem Umfeld etwas passiert, ist das doppelt so schlimm.
Wäre es richtig, wenn die Kinder in den nächsten Tagen nicht in den Hort zurückkehren müssen?
Wahrscheinlich ist der Ort im Moment schwierig, das kommt aber auf die Reaktion des einzelnen Kindes an. Wenn ein Kind wirklich nicht zurückkehren will, sollte es nicht gezwungen werden. Für andere ist es von Vorteil, zurückzukehren und festzustellen: Jetzt ist es wieder sicher.
Was kann so ein Ereignis langfristig auslösen?
Schlimme Ereignisse können ein Trauma auslösen, aber nicht bei allen Personen in gleichem Masse. Menschen sind unterschiedlich widerstandsfähig. Besonders traumatisierend sind Situationen, in denen Menschen etwas Böses machen – im Unterschied zu einer Naturkatastrophe. In Fällen von akuter Lebensbedrohung oder sexualisierter Gewalt tritt besonders oft eine Traumafolgestörung ein.
Wie äussern sich diese Folgestörungen?
Wir sprechen von Traumafolgestörungen, die viel tiefer greifen, gewöhnlich nicht von selber verschwinden und sich in diesen vier Dimensionen zeigen: Hyperaktivität, Flashbacks, Vermeidung von Orten und Erinnerungen sowie Dissoziationen, also wenn die Seele den Körper verlässt. Diese Symptome können sofort oder erst später auftreten.
Auch erst nach Jahren?
Das ist möglich. Bei direkter, persönlicher Gewalt, wie es in Oerlikon der Fall war, treten die Folgen für gewöhnlich sofort in Erscheinungen. Aber: Es spricht nicht jedes Kind darüber. Vielleicht fühlt es sich erst nach Monaten sicher genug, um von den Folgen zu erzählen.
Wie widerstandsfähig sind Kinder?
Bei einem Kind hat das gleiche Ereignis wahrscheinlich schlimmere Folgen als bei einem Erwachsenen. Die Unterschiede sind aber gross: Ein Ereignis löst weniger in einem Kind aus, das zu Hause gut eingebettet ist und weiss, dass es von seinen stabilen, wohlwollenden Eltern Hilfe bekommt, als wenn das Verhältnis zu den Eltern unsicher ist.
Wie lange dauert es, Traumafolgestörungen in einer Therapie zu verarbeiten?
Das Spektrum ist riesig. Ein Vergleichswert: Es gibt immer wieder Kinder, die einen Suizidfall bei Zuggleisen mitbekommen. Eine anschliessende Therapie muss nicht lange dauern. Wenn die Umstände des Kindes gut sind, reden wir hier von zehn, zwanzig Therapiestunden. Schlimmer ist es, wenn das Kind zuvor in seinem Leben Gewalt erlebt hat. Diese Erlebnisse summieren sich. Da kann dann jahrelange Therapie nötig werden.
Nun erfahren manche Kinder vielleicht von anderen, dass etwas Schlimmes vorgefallen ist. Welchen Umgang raten Sie den Eltern?
Das Wichtigste für Eltern ist, dass sie für ihre Kinder da sind und Ruhe, Sicherheit und Präsenz vermitteln. Dass sie sich nach dem Befinden des Kindes erkunden und auf Fragen kurze, klare Antworten geben. Eltern müssen es aber auch akzeptieren, wenn das Kind im Moment nicht darüber reden will.
Auch Kinder stellen die Frage nach dem Warum.
Eltern sollten nichts sagen, was Sie nicht wissen. Im vorliegenden Fall deuten die Zeichen auf einen Mann in einem psychotischen Zustand hin. Man kann dem Kind erklären: Wer in einem psychotischen Zustand ist, nimmt die Welt nicht gleich wahr wie die anderen. Wichtig ist, klarzustellen, dass ein solcher Vorfall eine grosse Ausnahme ist. Sie können dem Kind keine falsche Gewissheit geben, aber das Kind sollte sich darauf verlassen können, dass die Welt im Normalfall gut ist.
Was, wenn das Kind jetzt Angst hat und nicht zur Schule will?
Ich denke, man sollte ihm diese Möglichkeit bieten, nicht zur Schule zu gehen. Man kann dem Kind auch anbieten, es auf dem Schulweg zu begleiten, und ihm vermitteln: «Schau, ich komme mit, wir haben gemeinsam gesehen, hier ist es wieder sicher. Und bald gehst du wieder allein zur Schule.»
Was, wenn man als Elternteil selbst Angst hat?
Dann wäre eine Therapie für die Eltern sinnvoll. Kinder wissen vielleicht nicht alles, aber sie nehmen Stimmungen genauso gut oder vielleicht sogar besser als Erwachsene wahr. Wenn sich Eltern sicher fühlen, überträgt sich das auf die Kinder.
Sollen Eltern einen solchen Vorfall von sich aus thematisieren?
Nein, dazu würde ich nicht raten. Es geschehen jeden Tag so viele schlimme Dinge auf der Welt und es ist nicht richtig für Kinder, von alldem zu erfahren. Wenn Sie aber den Eindruck haben, Ihr Kind könnte etwas gehört haben, würde ich nachfragen, ob es etwas gehört habe, was ihm oder ihr Sorgen mache. Nachfragen, aber nicht forcieren.
Was muss in diesem Kontext noch erwähnt werden?
Kindern darf und soll man in aller Regel glauben, wenn sie etwas erzählen.
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