Interview mit AussenministerTaiwan fordert die Schweiz auf, «nicht auf der Seite Chinas zu kämpfen»
Der erfolgreiche Abwehrkampf der Ukrainer inspiriere sein Land, sagt Joseph Wu. Angesichts der chinesischen Bedrohung täte der Bundesrat gut daran, sich von Peking zu distanzieren.
China hat innenpolitisch grosse Probleme mit der Bewältigung der Pandemie. Sind das gute Nachrichten für Taiwan?
Ich bin mir nicht sicher, ob wir diese Probleme begrüssen sollten. Viele Menschen reisen zwischen China und Taiwan hin und her, Studierende, Geschäftsleute, gemischte Paare. Diese Menschen sind direkt von der Pandemie in China betroffen. Die Corona-Ausbrüche haben auch die dortige Wirtschaft geschwächt, was sich stark auf Taiwan auswirken wird. Das kommt zusätzlich zu den Problemen, die China im Bankenwesen und dem Immobilienmarkt schon hat. Die Lockdowns haben auch zu grossen Protesten geführt. Wenn man all das zusammenzählt, kann man durchaus zum Schluss kommen, dass China ein Problem der sozialen Instabilität hat.
Was bedeutet das für Taiwan?
Man mag sich vielleicht denken, dass sich China auf seine eigenen Probleme konzentriert und Taiwan deshalb freier von chinesischem Druck ist. Aber für ein autoritäres Land ist die Ausgangslage anders. Ein Weg, mit seinen innenpolitischen Problemen umzugehen, besteht darin, die Aufmerksamkeit abzulenken. Und da ist es der einfachste Weg, eine externe Krise zu schaffen. Und natürlich liegt da Taiwan für China am nächsten. Wir sind daher besorgt, dass das Regime Taiwan als Sündenbock identifizieren könnte.
Die Wahrscheinlichkeit, dass China Taiwan attackieren könnte, hat also zugenommen?
Ich will mich nicht zu sehr auf Wahrscheinlichkeiten festlegen. Aber die militärische Bedrohung Taiwans durch China hat zuletzt enorm zugenommen, das ist ein Fakt. Die chinesische Luftwaffe ist in diesem Jahr schon fast 3000-mal in Taiwans Luftraum eingedrungen. 2020 lag diese Zahl bei 380. Es gibt auch viel mehr Übungen der chinesischen Marine, die für uns gefährlich sind. China erhöht den Druck aber nicht nur militärisch.
Wie denn sonst noch?
Mit wirtschaftlichen Mitteln. So hat China vor kurzem ein Exportverbot einiger unserer Produkte nach China verhängt, darunter auch Bier, Spirituosen und Fischprodukte. Weiter führt China Cyberangriffe durch, wir mussten die Website des Aussenministeriums im August mehrmals vom Netz nehmen. Das chinesische Regime verfolgt weiter eine Desinformationskampagne mit dem Ziel, Taiwans demokratischen Prozess zu stören. Peking droht auch anderen Ländern, wenn sie ernsthafte Beziehungen zu Taiwan aufbauen.
Welche Schlussfolgerung ziehen Sie daraus?
Dass China einen möglichen militärischen Angriff auf Taiwan vorbereitet – und wir darauf gewappnet sein müssen. Unsere Strategie ist es, moderat und verantwortungsvoll zu reagieren. So schliessen wir aus, dass China einen Vorwand für einen Angriff hat. Ebenso können wir so Verbündete weltweit gewinnen. Gleichzeitig treiben wir Militärreformen voran, um unsere Verteidigungsfähigkeit zu erhöhen. Der beste Weg, einen Krieg zu verhindern, besteht darin, sich verteidigen zu können.
Das Regime in Peking spricht immer wieder von der Rückführung Taiwans in ein vereintes China. Begründet wird das historisch und ideologisch. Gibt es aber auch noch andere Gründe?
Auf dem Parteitag der Kommunistischen Partei hat Xi Jinping einen Arbeitsbericht vorgelegt, in dem er sagte, die Lösung der Taiwan-Frage sei eine innenpolitische Angelegenheit Chinas. Aber natürlich gibt es auch eine strategische Perspektive. Taiwan liegt in der ersten Inselkette vor China. Wenn China seinen Einfluss im Pazifik ausweiten will, ist es strategisch am besten, Taiwan zu kontrollieren. Und natürlich könnte China auch ein wirtschaftliches Kalkül haben: Taiwan ist ein Hightech-Zentrum. Wir sind führend in der Produktion von Halbleiter-Chips. China könnte versucht sein, Taiwan anzugreifen, um diese Produktion zu übernehmen. Der wichtigste Grund scheint mir aber ein anderer: Taiwan ist in der Sphäre der chinesischsprachigen Länder ein Gegenentwurf zu China.
Wie meinen Sie das?
Die Kommunistische Partei hat China immer autoritär regiert – und sie wird jetzt noch autoritärer. Taiwan hingegen ist eine blühende Demokratie. Die Menschen sind frei, können demokratische Rechte wahrnehmen, der Schutz der Menschenrechte ist vorbildlich. Da müssen sich die chinesische Regierung und das Volk doch folgende Frage stellen: «Wir haben das gleiche kulturelle Erbe wie Taiwan. Die Menschen dort können die Freiheit und den Schutz der Menschenrechte geniessen, aber in China soll das nicht gehen?» Chinas Regime muss Wege finden, dies zu beantworten. Und die einfachste Antwort besteht darin, Taiwan als Demokratie zu beseitigen. So wie das Regime in Peking die Demokratie in Hongkong beseitigt hat.
China hat eine Liste «unbelehrbarer Separatisten» veröffentlicht. Auch Sie sind auf dieser Liste. Träumen Sie von der kompletten Unabhängigkeit?
Sehe ich denn aus wie ein unbelehrbarer Separatist? (lacht) Viele Menschen in Taiwan lachen darüber. Es gibt hier solche, die haben seit Jahren für die Unabhängigkeit gekämpft und meinen, sie hätten diesen Titel eher verdient als ich. Tatsächlich habe ich als Aussenminister die Politik unterstützt, den Status quo aufrechtzuerhalten.
Was bedeutet der Status quo genau?
Taiwan wurde in seiner Geschichte noch nie von einem anderen Land regiert, auch nicht von China. China hat keine Gerichtsbarkeit über Taiwan. Wir haben hier eine demokratisch gewählte Regierung. Ein Militär, das unser Land beschützt. Eine eigene Währung, den Taiwan-Dollar. Deshalb bedeutet der Status quo, dass die beiden Länder getrennt sind, dass Taiwan und China nicht zueinander gehören. Diesen Status quo, der so seit sechs Jahrzehnten gilt, möchte die Regierung bewahren. Das ist die Gegenwart.
Und die Zukunft?
Es ist nicht gesagt, dass die Bevölkerung diesen Status quo immer bevorzugen wird. Vielleicht wünschen sich die Menschen dereinst eine Vereinigung mit China, eine komplette Unabhängigkeit oder auch eine dritte Option. Ich als Aussenminister kann nur über das Hier und Jetzt sprechen. Die Entscheidung über die Zukunft wird die taiwanesische Bevölkerung treffen.
«Niemand wird uns unsere Freiheit nehmen.»
Könnte sich Taiwan überhaupt allein gegen eine chinesische Invasion verteidigen?
Es gibt in der Bibel die Geschichte David gegen Goliath. Und es gibt die aktuelle Geschichte aus der Ukraine. In beiden Fällen schien der Verlierer von vornherein festzustehen. David gewann, und auch die Ukrainer kämpfen immer noch gegen die Russen, die die zweit- oder drittgrösste Armee der Welt haben. Doch das ist nicht der einzige Faktor. Es geht auch um Strategie und Moral. Wir in Taiwan sind entschlossen, uns selbst zu verteidigen. Wir wollen unsere demokratische Lebensweise schützen. Niemand wird uns unsere Freiheit nehmen. Deshalb betreiben wir eine sehr ernsthafte militärische Ausbildung.
Was heisst das konkret?
Wir verfolgen eine asymmetrische Strategie. Dafür haben wir unsere Streitkräfte dezentralisiert und lokale oder territoriale Verteidigungskräfte aufgestellt. Auch trainieren wir unsere Reserven intensiver. Wir beschaffen militärische Ausrüstung aus den Vereinigten Staaten. Und auch wenn einige Dinge vielleicht nicht so schnell geliefert werden, wie wir es uns wünschen: Sie werden geliefert. Wir produzieren auch selbst viel militärisches Material, die für die Verteidigung nötig sind. Es ist nicht so, dass wir völlig wehrlos sind, China jederzeit einmarschieren und Taiwan übernehmen kann. Wäre das der Fall, hätten die Chinesen längst angegriffen.
Wäre Taiwan im Ernstfall nicht auf militärischen Beistand der USA angewiesen?
Es ist das taiwanesische Volk, das Taiwan schützen will. Daher liegt die Verantwortung für die Verteidigung Taiwans bei den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes. Klar, wir brauchen die Unterstützung der USA und anderer gleichgesinnter Partner. Aber entscheidend ist nicht, dass uns die Amerikaner im Notfall beistehen, sondern dass wir bereit sind, uns zu verteidigen.
Die Regierung Biden scheint das Versprechen, Taiwan im Falle einer chinesischen Invasion militärisch zu unterstützen, verstärkt zu haben. Dennoch verfolgen die USA weiterhin eine Ein-China-Politik und beharren auf ihrer Strategie der Zweideutigkeit. Glauben Sie, dass Sie sich im Notfall auf die USA verlassen können?
Die Ein-China-Politik ist kein Hindernis. Die USA bezeichnen Taiwan als demokratische Erfolgsgeschichte, als zuverlässigen Partner und als eine Kraft des Guten in der Welt. Die politischen Entscheidungsträger bezeichnen ihre Verpflichtungen gegenüber Taiwan im Rahmen des Taiwan Relations Act als unverrückbar. Nicht nur ist die militärische Kooperation sehr eng, die USA helfen uns auch, uns in internationalen Gremien einzubringen. Und sie bezeichnen Taiwan als wirtschaftliches Kraftzentrum. Gleichzeitig haben wir zum Beispiel auch enge Beziehungen zu Australien.
Fürchten Sie ein Comeback von Donald Trump im Weissen Haus?
Während Präsident Trump im Amt war, haben sich Taiwans Beziehungen zu den USA enorm verbessert. Ausserdem traf nicht nur der Präsident Entscheidungen, die Auswirkungen auf uns hatten, sondern auch das Wirtschaft- oder das Aussenministerium. Und im Kongress scheinen die Demokraten und die Republikaner miteinander zu konkurrieren, wer netter ist mit Taiwan. Wir sind in einer guten Position, mischen uns jedoch nicht in die US-Innenpolitik ein.
«Wenn ein Herrscher wie Wladimir Putin einen Krieg beginnen kann, kann China das auch.»
Welche Bedeutung hat der Ausgang von Putins Krieg gegen die Ukraine für Taiwan?
Wenn die Taiwanesinnen und Taiwanesen die Kriegsgräuel und Massaker in der Ukraine sehen, reagieren sie sehr heftig und wollen der Ukraine helfen. Wenn ein Herrscher wie Wladimir Putin einen Krieg beginnen kann, kann China das auch. Ein Angriff auf Taiwan wurde realistischer wegen Putins Krieg. Wir haben uns den Sanktionen gegen Russland angeschlossen. Wir unterstützen die Ukrainer in grossem Umfang mit medizinischem Material und helfen, Schulen und Spitäler wieder aufzubauen. Wir haben den Krieg in der Ukraine genau beobachtet und versucht, Lehren daraus zu ziehen.
Was für Lehren sind das?
Die Ukrainer verteidigen sich und ihre Freiheit selbst. Das ist für uns inspirierend. Zudem lernen wir von ihnen, wie sie die asymmetrische Kriegsführung anwenden. Allerdings ginge das nicht ohne die grosse internationale Unterstützung. Sogar Japan und Australien helfen der Ukraine, obwohl sie weit entfernt sind. Wir sehen, wie wichtig das ist, wenn man mit einem sehr autoritären Land wie China konfrontiert ist. Deshalb bemühen wir uns, Freundschaften mit der internationalen Gemeinschaft zu schliessen. Glücklicherweise haben sich unsere Beziehungen zu demokratischen Partnern in den letzten Jahren enorm verbessert, selbst nach dem Krieg in der Ukraine. Die G-20 oder die EU betont, dass sie jede Änderung des Status quo ablehnt. Damit zeigt sie indirekt ihre starke Unterstützung für Taiwan.
Auch die Schweiz ist eine Demokratie. Sie hat 1950 die Volksrepublik China anerkannt und verfolgt seither eine Ein-China-Politik. Sie betrachtet Taiwan nicht als eigenständigen Staat, sondern als Teilstaat Chinas. Sehen Sie die Schweiz deshalb als Gegner?
Jedes Land hat seine eigene Politik, und wir verstehen die praktischen Grenzen der Aussenpolitik Taiwans. Gleichzeitig ist Taiwan eine wirtschaftlich starke, lebendige Demokratie. Wir hoffen, dass die Schweizer Regierung dies anerkennt und mit Taiwan auf eine praktischere Weise zusammenarbeitet. Andere Länder in Europa wie Grossbritannien, Frankreich, Deutschland, Tschechien, Polen oder die Slowakei haben alle eine eigene Version der Ein-China-Politik. Wir haben mit diesen Ländern keine diplomatischen Beziehungen. Dennoch ist der Austausch sehr gut. Sie beteiligen sich sogar an Sicherheitsdiskussionen.
Könnten die Beziehungen zur Schweiz also besser sein?
Ja, auf jeden Fall. Wir hoffen, dass unsere Beziehungen zur Schweiz besser werden, und wir werden hart dafür arbeiten. Wir haben eine Vertretung in der Schweiz, auch wenn wir keine diplomatischen Beziehungen haben. Aber unser Büro in der Schweiz funktioniert wie eine Botschaft, und wir haben dort einen Vertreter, der ein Freund von mir ist und wie ein Botschafter arbeitet. Wir können aber immer noch eine Menge tun, um die Beziehungen zu verbessern.
Wie?
Sagen Sie bitte Ihrer Regierung, dass sie den taiwanesischen Aussenminister einreisen lassen soll. Ich kann Bratislava besuchen. Ich kann Kopenhagen besuchen. Ich kann Prag besuchen. Ich kann Warschau besuchen. Ich kann Brüssel besuchen. Aber ich glaube nicht, dass ich im Moment die Schweiz besuchen kann wegen deren Auslegung der Ein-China-Politik.
Wo bietet sich eine Zusammenarbeit an?
Taiwan ist weltweit wahrscheinlich das Ziel Nummer eins hybrider Kriegsführung. Ich weiss, dass viele europäische Länder, auch die Schweiz, unter Desinformationskampagnen und hybrider Kriegsführung gelitten haben. Das ist ein guter Ausgangspunkt, um weitere Gespräche zu führen, damit die Schweiz von Taiwan und Taiwan von der Schweiz profitieren kann. Die Schweiz verfolgt seit langem eine Politik der Neutralität, und deshalb würde ich die Schweiz ermutigen, sich etwas neutraler zwischen Taiwan und China zu verhalten, anstatt auf der Seite Chinas zu kämpfen. Schliesslich ist China ein sehr autoritäres Land, das andere Länder bedroht. Sich auf die Seite dieses autoritären Chinas zu stellen, ist vielleicht nicht die beste Politik für Ihr Land.
Kürzlich wurde in der Schweiz das Bundesamt für Cybersicherheit geschaffen, das im Verteidigungsdepartement angesiedelt ist. Bietet sich hier allenfalls die Möglichkeit einer Kooperation?
Oh ja, auf jeden Fall. Da würde sich Taiwan gerne beteiligen. Wir haben viele Expertinnen und Experten für Cybersicherheit und für die Bekämpfung von Desinformation. Unsere Digitalministerin Audrey Tang wird von vielen Ländern bewundert, insbesondere von unserem Nachbarn Japan, und sie wird häufig eingeladen. Das wäre ein sehr guter Ausgangspunkt.
Was erwarten Sie von der Schweiz im Hinblick auf den sich abzeichnenden Konflikt zwischen der Volksrepublik China und Taiwan?
Taiwan und die Schweiz teilen die gleichen Werte wie Freiheit und Demokratie, den Schutz der Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit. Und Taiwan hat auch umfangreiche wirtschaftliche Beziehungen mit der Schweiz. Die Menschen hier in Taiwan sind angetan von der Schweiz als Tourismusdestination. Daher hoffen wir, dass die Schweizer Regierung Taiwan unterstützt, wenn unser Land bedroht wird. Zumal es dabei nicht nur um Taiwan geht, sondern um den gesamten indopazifischen Raum.
Inwiefern?
China setzt nicht nur Taiwan militärisch unter Druck. Auch Japan ist sehr besorgt wegen der chinesischen Militäraktivitäten im Ostchinesischen und im Südchinesischen Meer. China versucht auch, seine Macht in den Pazifik auszuweiten, indem es ein Sicherheitsabkommen mit den Salomonen unterzeichnete, die vor der Haustür Australiens liegen. Peking verfolgt eine Perlschnur-Strategie, selbst in Afrika. Die Reise Xi Jinpings nach Saudiarabien zeigt, dass China versucht, seinen Einfluss im Nahen Osten zu vergrössern. In Lateinamerika gibt es einen Linksrutsch in mehreren Ländern. Auch da ist China präsent. Offenbar versucht Peking, seinen Einfluss in der ganzen Welt auf Kosten der Demokratien auszuweiten. Das ist auch für die Schweiz als demokratisches Land relevant.
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