Anti-Globalisierungs-DemonstrationenDie Proteste gegen das WEF sind Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden
Schulterzucken statt Empörung: Ein Grossaufmarsch gegen das Davoser Treffen ist dieses Jahr nicht zu erwarten. Warum? Ist dies das Ende der Globalisierungskritik?
- Das Interesse an Demonstrationen gegen die Globalisierung ist geringer als früher.
- Das liegt daran, dass die Globalisierung vielen ärmeren Ländern geholfen hat – und dass internationale Institutionen weniger Macht ausüben, als befürchtet wurde.
- Gleichzeitig hat sich die Kritik professionalisiert. Statt auf der Strasse manifestieren sich kritische Aktionen häufiger übers Internet.
Seattle, Dezember 1999. Vierzigtausend Menschen stehen auf der Strasse, liefern sich Strassenschlachten mit der Polizei. Sie sind Hippies, Bäuerinnen, Gewerkschafter, Studenten, Umweltschützerinnen, Globalisierungsgegner – und demonstrieren gegen die Welthandelsorganisation WTO, die in jenen Tagen über weitere Liberalisierungen im Welthandelssystem debattiert.
Der «Battle for Seattle» geht als eine der grössten Protestaktionen gegen die Globalisierung in die Geschichte ein. Doch es bleibt nicht die einzige. In Prag, in Genua und auch in Bern kommt es in den Jahren darauf zu Grossdemonstrationen gegen die Wirtschaftselite, die «hinter verschlossenen Türen» die Globalisierung vorantreiben will, gegen die Interessen der Arbeiterschaft und ohne Rücksicht auf Umweltschutz – so jedenfalls glauben es die zahlreichen Kritiker, die Ereignisse wie das jährliche World Economic Forum in Davos zu jener Zeit auf den Plan rufen.
Doch die Treffen, die vor einem Vierteljahrhundert für gesellschaftsweite Empörung sorgten, rufen heute vielerorts nur noch Gleichgültigkeit hervor. Anlässlich des WEF sind zwar auch dieses Jahr Kundgebungen geplant. Einen Grossaufmarsch gab es bislang nicht. Ein paar Hundert demonstrierten am Samstag in Bern, etwa 300 Personen in Küblis GR. Die Ära, in der sich breite Bevölkerungsschichten für derartige Proteste mobilisieren liessen, ist vorbei.
Warum eigentlich?
Handel als Erfolgsrezept
Ein naheliegender Grund ist die Globalisierung selbst. Beziehungsweise: die unerwartet positive Entwicklung, die sie seit Seattle hervorgebracht hat.
Um die Jahrtausendwende befürchteten Kritiker, dass die Globalisierung die bestehenden Unterschiede zwischen reichen und armen Ländern zusätzlich verstärken würde. Der globale Norden würde vom Kapitalismus profitieren und der Süden zusätzlich ausgebeutet, lautete eine verbreitete Meinung.
Passiert ist das Gegenteil. In den letzten fünfundzwanzig Jahren sind die Industrieländer wirtschaftlich langsamer gewachsen. Dagegen haben viele Schwellen- und Entwicklungsländer einen Boom erlebt. Die Wohlstandslücke zwischen armen und reichen Ländern ist insgesamt kleiner geworden – erstmals seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert.
Ralph Ossa, Chefökonom der WTO, bezeichnet das als «regelrechtes Wirtschaftswunder». Und er sagt, dass die Ausweitung des Welthandels einen grossen Anteil daran gehabt habe. Als Beleg dafür verweist er auf eine Statistik: Sie zeigt, dass genau jene der einst armen Länder, die sich für den Handel geöffnet haben, wirtschaftlich am besten vorangekommen sind.
Wirtschaftstheoretisch gedacht, ergibt dieser Zusammenhang Sinn. Der Handel macht Importe billiger und ermöglicht Volkswirtschaften, sich zu spezialisieren. Offene Volkswirtschaften ziehen zudem mehr ausländische Investitionen an und profitieren stärker von Technologietransfer. Effekte wie diese erklären, warum die Globalisierung einigen Ländern einen spektakulären Aufstieg ermöglicht hat. Das bekannteste Beispiel dafür ist China, doch es gibt auch noch andere. Etwa Costa Rica, das früher primär Tropenfrüchte exportierte und inzwischen eine Medtech-Industrie hat.
Ossa räumt ein, dass nicht alle Länder an der Aufholjagd teilgenommen haben. Aber oft liege das daran, dass diese Länder eben schlecht in die Weltwirtschaft integriert seien – sei es, weil sie sich mit Zöllen abschotten, die Infrastruktur schlecht ist oder weil es Bürokratie und Korruption gibt.
Die Institutionen haben sich verändert
Ein zweiter Grund dafür, dass die Kritik an der Globalisierung abgeflaut ist, sind die Institutionen, an denen sich Proteste damals entzündeten: Weltbank, Internationaler Währungsfonds, G8, Welthandelsorganisation, World Economic Forum. Sie haben heute ein ganz anderes Image.
Das liegt einerseits an der verbesserten Transparenz. Die Öffentlichkeit weiss detaillierter darüber Bescheid, was in internationalen Gremien verhandelt wird. Auch viele nationale Behörden nehmen ihren diesbezüglichen Informationsauftrag ernster als zur Zeit von Seattle.
Andererseits liegt es am ideologischen Wandel, der in diesen Institutionen stattgefunden hat. Im ausgehenden 20. Jahrhundert war deren Politik geprägt vom «Washingtoner Konsens». Dieses Wirtschaftsprogramm behauptete – vereinfacht –, dass freier Handel und Kapitalverkehr für alle Länder das beste Rezept seien, und wollte den Staat generell zurückbinden. Heute gilt diese neoliberale Agenda als überholt.
Bei Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds ist eine neue Generation am Ruder. Das dortige Fach- und Führungspersonal argumentiert viel differenzierter und versteht staatliche Regulierung nicht generell als Hindernis, sondern als unabdingbare Voraussetzung für eine gesunde Wirtschaftsentwicklung.
Zu diesem Paradigmenwechsel haben Ereignisse wie die Finanzkrise geführt. Aber auch die Proteste selbst haben Wirkung gezeigt. «Seattle war ein Weckruf», sagt Christian Etter, der als Leiter der Wirtschaftsabteilung der Schweizer Botschaft in Washington damals vor Ort war. «Dafür, dass sich die Öffentlichkeit nicht nur für die wirtschaftliche Entwicklung interessiert, sondern auch für soziale und ökologische Fragestellungen.»
Spult man die Zeit vorwärts zum WEF von heute, so wirken viele der dortigen Veranstaltungen ziemlich progressiv. Sie drehen sich um Umweltschutz, Geschlechtergleichheit oder Bankenregulierung – was den Organisatoren sogar schon Kritik von der Republikanischen Partei der USA und ihnen nahestehenden Geschäftsleuten eingebracht haben soll.
Natürlich darf man den schöngeistigen Diskurs auf der Bühne nicht damit gleichsetzen, was den Wirtschaftsführern wirklich wichtig ist. Doch dass man heute anders über Globalisierung spricht als um die Jahrtausendwende, ist offensichtlich. Der einstige ABB-Chef Percy Barnevik soll damals in einem Vortrag vor Kollegen den legendären Satz gesagt haben, er definiere Globalisierung als «die Freiheit unserer Firmengruppe, zu investieren, wo und wann sie will, zu produzieren, was sie will, zu kaufen und zu verkaufen, wo sie will, und alle Einschränkungen durch Arbeitsgesetze oder andere gesellschaftliche Regulierungen so gering wie möglich zu halten».
So würde in Davos heute selbst hinter den Kulissen niemand mehr reden.
Nationalstaaten haben ihre Macht verteidigt
Dass die Wirtschaftstreffen der globalen «Elite» heute weniger gut als Zielscheibe taugen, hat aber auch noch einen dritten Grund. Der Einfluss, den solche Foren ausüben, hat sich über die Zeit als beschränkt erwiesen.
Ein gutes Beispiel dafür ist die WTO. In den 1990er-Jahren hielt man diese Organisation noch für eine Art geheime Weltdiktatur. Man fürchtete sich davor, dass sie eine neue Handelsordnung durchsetzen würde – mit vielen Freiheiten für Konzerne und ohne Mitspracherechte für die Öffentlichkeit.
Tatsächlich hat sich seither aber vor allem eines gezeigt: Die wahre Macht liegt nicht bei internationalen Organisationen oder Verträgen, sondern in den Hauptstädten: von Washington über Paris bis Peking und Moskau.
Schon 1998 bodigte etwa Frankreich ein Investitionsabkommen, das Firmen ermöglicht hätte, auf dem Gerichtsweg den Service public an sich zu reissen. Später scheiterten verschiedene Handelsabkommen – etwa zwischen den USA und Pazifikstaaten oder zwischen den USA und Europa – wegen der politischen Skepsis in den betreffenden Ländern. Und auch auf Ebene der WTO kam im neuen Jahrtausend keine Verhandlungsrunde zum Abschluss.
Man mag dies begrüssen oder auch nicht. Klar ist jedenfalls geworden, wer bei der Gestaltung der Globalisierung das letzte Wort hat: die Öffentlichkeit in den Nationalstaaten beziehungsweise deren politische Repräsentanten.
Und so steht die Globalisierungskritik heute in einer verkehrten Welt. Die «bösen Jungs» sind Politiker wie Donald Trump, die gegen Klimaschutz sind, schwächere Länder mit Zöllen erpressen und verhindern wollen, dass internationale Streitigkeiten über internationale Organisationen wie die WTO gelöst werden. Die «Guten» sind ebendiese Organisationen geworden, die sich hinter das Netto-null-Emissionsziel stellen und das Prinzip des regelbasierten Handels hochhalten, das allen Ländern gleiche Spiesse gibt.
Spiegelbildlich dazu kam es auch innerhalb der Globalisierungskritik zu einer Verschiebung. Sie war früher fast exklusiv eine linke und grüne Angelegenheit. Inzwischen warten aber auch Rechtspopulisten und Verschwörungstheoretiker lautstark mit Anti-Globalismus-Rhetorik auf.
Deren Kritik ist inhaltlich diffuser und fokussiert stärker auf Themen wie Migration und den Einfluss internationaler Vorschriften. Doch wie die Politologin Stefanie Walter von der Universität Zürich sagt, spielt die Angst vor Souveränitätsverlust auch in der rechten Globalisierungsrhetorik eine grosse Rolle. Entsprechend stark ist die Ablehnung, die internationalen Abkommen und Organisationen dort entgegenschlägt – der Tatsache zum Trotz, dass der Multilateralismus in jüngster Zeit eher geschwächt wurde.
Die Kritik hat sich professionalisiert
Ebenso wie das Machtgefüge in der Globalisierung hat sich auch die Art und Weise verändert, wie diese angeprangert wird. Seit Seattle hat sich die Kritik inhaltlich differenziert – und sie hat sich in den Methoden professionalisiert.
Verschiedene Netzwerke beackern seit der Jahrtausendwende verschiedene Themengebiete. Das Climate Action Network kämpft etwa für Klimapolitik, die Global Alliance for Tax Justice für Steuergerechtigkeit. Beide Organisationen sind weltweit tätig, publizieren regelmässig Berichte und prägen Debatten mit.
«Die Diskussion ist heute stärker in Einzelteile aufgesplittert», sagt Andreas Missbach, Geschäftsleiter von Alliance Sud, einem Kompetenzzentrum für Entwicklungspolitik. «Und die Bewegung beschäftigt sich weniger mit der Abwehr der Globalisierung, dafür umso mehr mit deren Gestaltung.»
Verschiedene Gruppen haben dabei ihre eigene Nische gefunden. So auch die Schweizer Nichtregierungsorganisation Public Eye. Sie hat sich auf Kampagnenarbeit spezialisiert. Im Fokus stehen dabei nicht Institutionen wie die WTO, sondern multinationale Konzerne. Das funktioniert medial besser und verspricht greifbarere Ergebnisse.
Im April stellte Public Eye etwa Nestlé an den Pranger, weil der Schweizer Nahrungsmittelhersteller bestimmte Babyprodukte in armen Ländern mit Zucker anreichert. «Dieser Bericht erzeugte gerade in Schwellenländern ein Riesenecho», sagt Sprecher Oliver Classen, der viele Jahre auch die Gegenveranstaltung von Public Eye zu Davos koordiniert hat. «Sogar der Börsenkurs von Nestlé India reagierte darauf.»
Classen hat kein Problem damit, wenn am WEF nicht mehr Tausende demonstrieren. Dank dem Internet erreiche die Globalisierungs- und Konzernkritik auch so ihr Publikum. «Ein Hashtag kann auch eine soziale Bewegung sein.» Einen Mangel an Mitgliedern und Interesse beklage Public Eye jedenfalls nicht.
Das leuchtet ein. Denn so überraschend die Globalisierung in manchen Aspekten auch verlaufen ist: Solange Probleme wie der Klimawandel, Ungleichheit oder Steuerflucht nur im Ansatz gelöst sind, wird es in der einen oder anderen Form weiterhin Kritik an der Globalisierung geben.
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